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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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inzwischen schon beinahe davon überzeugt, dass es hinter dem Friedhof einen Abhang oder eine Mulde gab und ein Stück weiter vielleicht eine einsame Behausung, die ich nur nicht gesehen hatte, denn das wechselnde Licht kann einem an solch einem Ort allerlei vorgaukeln; außerdem war ich ja auch nicht hinausgegangen, um nach ihrem Versteck zu suchen, ich hatte mich einfach umgeschaut und dabei nichts gesehen. Nun gut. Im Augenblick vermied ich es, mich an Mr. Jeromes bestürzte Reaktion zu erinnern, als ich am Vormittag die Frau erwähnt hatte.
    Auf dem Damm war es noch trocken, doch links begann das Wasser bereits, langsam und leise heranzukriechen. Ich fragte mich, wie tief der Weg bei Fluthöchststand unter Wasser stand. An einem stillen Abend wie diesem war sicherlich genug Zeit, um den Damm ungefährdet zu überqueren. Die Entfernung kam mir nun, da ich zu Fuß war, allerdings größer vor, als sie mir von der Kalesche aus erschienen war, und das Ende des Weges schien sich im Grau der Dämmerung immer weiter zurückzuziehen. Noch nie zuvor hatte ich mich in einer weiten Landschaft so allein, so klein und so unbedeutend gefühlt wie jetzt. Ich begann, mich einer nicht unangenehmen grüblerischen Stimmung hinzugeben, und verlor mich in philosophischen Gedanken über die völlige Gleichgültigkeit von Wasser und Himmel gegenüber meiner Anwesenheit.
    Minuten später, wie viele, könnte ich nicht sagen, kehrte ich in die Realität zurück und bemerkte, dass ich von dem Damm nur noch wenige Meter sehen konnte. Und als ich mich umdrehte, erschrak ich, denn auch das Haus war nicht mehr zu sehen – nicht, weil die Nacht verfrüht eingebrochen wäre, sondern weil von der See ein dichter, nasser Nebel über die Marschen gezogen kam, der alles verhüllte: mich, das Haus hinter mir, das Ende des Damms und die Landschaft ringsum. Wie nasse, klebrige Spinnweben, fein und doch undurchsichtig, legte sich der Nebel um mich. Er roch und fühlte sich ganz anders an als der gelbe schmutzige Nebel Londons, der würgend und dick und unbewegt war, während dieser salzig und blass und ruhelos war. Ich war verwirrt, fühlte mich verspottet, denn mir war, als bestünde er aus Millionen lebendiger Finger, die über mich strichen, sich an mich hefteten und wieder lösten. Mein Haar, mein Gesicht und die Mantelärmel waren bereits nass von dem eigenartigen Schleier aus Feuchtigkeit. Vor allem aber war es sein plötzliches Auftauchen, das mich so bestürzte.
    Eine Zeitlang ging ich langsam weiter, entschlossen, mich nicht beirren zu lassen, bis ich die sichere Landstraße erreicht hatte. Aber dann kam mir der Gedanke, dass ich mich schnell verlaufen könnte, sobald ich den geraden Damm hinter mir hatte, und vielleicht die ganze Nacht erschöpft herumirren mochte. Das Vernünftigste war, umzudrehen und die paar hundert Meter, die ich bereits gekommen war, zurückzugehen und im Haus zu warten, bis sich entweder der Nebel auflöste oder Keckwick mich abholte, oder beides.
    Der Rückweg wurde zum Alptraum. Ich setzte vorsichtig Fuß vor Fuß, aus Angst, ich könnte vom Weg ab in die Sümpfe und dann ins stetig steigende Wasser geraten. Wenn ich hochblickte, raubte mir der wallende Nebel alle Zuversicht, und so stolperte ich blind weiter und betete, das Haus bald zu erreichen, das offenbar weiter entfernt war, als ich vermutet hatte. Doch dann hörte ich von irgendwo im wogenden Nebel und der Dunkelheit ein Geräusch, das mir neuen Mut machte: das ferne, aber unverkennbare Geklapper der Pferdehufe und das Rattern und Knarren der Kalesche. Keckwick ließ sich also vom Nebel nicht abhalten, dazu war er vermutlich schon zu oft im Dunkeln durch die Straßen und über den Damm gefahren. Ich blieb stehen und wartete darauf, eine Laterne zu sehen, denn zweifellos musste er eine dabeihaben, und ich überlegte, ob ich rufen sollte, um auf mich aufmerksam zu machen, denn es konnte ja sein, dass er mich nicht rechtzeitig sah, und ich wollte ungern in den Graben springen.
    Da wurde mir bewusst, dass der Nebel nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren in die Irre führte. Denn die Geräusche des Wagens blieben nicht nur viel länger und weiter von mir entfernt, als ich erwartet hatte, sie schienen auch nicht von unmittelbar hinter mir zu kommen, aus der Richtung des Damms, sondern stattdessen von irgendwo rechts von mir aus der Marsch. Ich bemühte mich, die Richtung des Windes auszumachen, doch es war vollkommen windstill. Ich drehte mich um, aber da

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