Die Frau in Schwarz
Wohnzimmer genutzten Raum trank ich meinen Kognak und überlegte, so ruhig ich konnte, was ich tun sollte. Doch als der Alkohol anfing zu wirken, entspannte er mich nicht, sondern verstärkte meinen inneren Aufruhr nur noch. Ich begann, mich über Mr. Bentley zu ärgern, weil er mich hierhergeschickt hatte, und über meine eigene törichte Sturheit und Dummheit, mit der ich alle Andeutungen und versteckten Hinweise über diesen Ort ignoriert hatte. Ich sehnte mich danach, nein, ich betete darum, rasch von hier erlöst zu werden und zurück in London zu sein, unter Freunden – überhaupt unter Leuten –, vor allem aber bei Stella.
Ich konnte nicht stillsitzen in diesem Klaustrophobie beschwörenden und dennoch seltsam weitläufig scheinenden Haus, und so wanderte ich von Zimmer zu Zimmer, hob einmal diesen, dann jenen Gegenstand auf und stellte ihn hoffnungslos an seinen Platz zurück. Dann stieg ich die Treppe hinauf, blickte noch einmal von einem Schlafzimmer ins andere und ging Richtung Dachboden mit seinen rohen Balken, dem nackten Boden und den schmalen, hohen, vorhanglosen Fenstern.
Die Türen im ersten Stock standen alle offen, jedes Zimmer war ordentlich aufgeräumt, alles dick mit Staub bedeckt, bitterkalt und klamm und doch irgendwie auch stickig. Dann kam ich zu einer Tür, die sich nicht öffnen ließ. Sie befand sich am hinteren Ende eines Ganges, an dem drei Schlafzimmer lagen. Sie hatte weder ein Schlüsselloch noch einen Riegel, zumindest nicht außen. Aus unverständlichen Gründen ärgerte mich das, und ich trat gegen die Tür und rüttelte heftig an der Klinke. Irgendwann gab ich auf und stieg, während ich dem Echo meiner Schritte lauschte, die Treppe wieder hinunter. Hin und wieder trat ich an das eine oder andere Fenster, wischte über die Scheibe und schaute nach draußen. Auch wenn es mir gelang, die schmierige Schmutzschicht stellenweise wegzureiben, der dichte Nebelvorhang, der draußen ans Fenster drückte, ließ sich nicht wegwischen. Als ich ihn weiter anstarrte, bemerkte ich, dass er sich wie Wolken immer noch bewegte, ohne jedoch aufzubrechen oder sich aufzulösen.
Ich gönnte mir noch ein Glas des milden, blumigen Weinbrands, dann ließ ich mich auf das Plüschsofa in dem Wohnzimmer mit der hohen Decke fallen, wandte das Gesicht vom Fenster ab und gab mich einem melancholischen Grübeln und Selbstmitleid hin. Mir war nicht mehr kalt, ich war auch nicht mehr verängstigt oder ruhelos, sondern fühlte mich wie durch einen Kokon von den schrecklichen Ereignissen draußen auf den Marschen abgeschirmt, und ich gestattete mir, in eine Art Entrückung zu gleiten, die Augen zu schließen, nicht mehr zu denken und, wenn schon nicht Frieden zu finden, so doch zumindest eine Erleichterung der ungeheuren Anspannung.
Eine Glocke klingelte, schrillte in meinen Ohren, in meinem Kopf, und es klang gleichermaßen nahe und doch eigenartig fern. Dieses Schrillen schien zu schwanken, und ich wogte mit ihm. Ich kämpfte gegen die Dunkelheit, die wie der Boden unter meinen Füßen zu schaukeln schien, und hatte solche Angst, auszurutschen und zu fallen, tief hinunterzufallen und von einem grauenvollen, hallenden Sog verschlungen zu werden. Die Glocke schlug weiter. Ich erwachte vollkommen verwirrt und sah durch das hohe Fenster den Mond wie einen riesigen Kürbis am schwarzen Himmel hängen. Mein Kopf war schwer, mein Mund trocken, die Zunge pelzig, meine Arme und Beine waren steif. Ich hatte geschlafen, vielleicht Minuten, möglicherweise aber auch Stunden, und jegliches Zeitgefühl verloren. Als ich versuchte, mich aufzusetzen, wurde mir klar, dass das Klingeln nicht Teil meines wirren Alptraums gewesen war, sondern dass tatsächlich eine Glocke durchs Haus schrillte. Jemand war an der Haustür.
Während ich mich halb gehend, halb stolpernd – meine Beine und Arme waren taub von meiner verkrampften Haltung auf dem Sofa – auf den Gang schleppte, erinnerte ich mich langsam an das, was geschehen war. Und erneut überkam mich ein unbändiges Grauen, als ich an die Schreie des Kindes aus dem Pferdewagen dachte. Die Lichter, die ich eingeschaltet hatte, waren alle noch an. Sie schienen aus den Fenstern und waren wohl gesehen worden, vermutete ich, während ich die Haustür öffnete. Es war dumm, aber ich hoffte so sehr, ein Suchtrupp starker Männer wäre gekommen, denen ich alles Weitere überlassen könnte, die wüssten, was zu tun wäre, und die mich vor allem von hier wegbringen würden. Aber
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