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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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entfernte sich das Geräusch noch weiter.
    Verwirrt blieb ich stehen, wartete und lauschte angespannt in die weiße Wand hinein. Was ich als Nächstes hörte, schickte mir eiskalte Schauder über den Rücken: Die Geräusche des Pferdewagens wurden schwächer, dann verstummten sie plötzlich, und draußen auf der Marsch ertönte ein seltsam saugendes, blubberndes Geräusch, zu dem sich das panische Wiehern eines Pferdes gesellte und dann ein Schrei, ein Brüllen, ein furchterfülltes Schluchzen, das zwar schwer zu beschreiben war, aber untrüglich von einem Kind kam, wie ich mit Entsetzen feststellte. Vollkommen hilflos stand ich im Nebel, der mir jegliche Sicht raubte. Angst und ein Gefühl von Aussichtslosigkeit trieben mir Tränen in die Augen, denn ich wusste ohne Zweifel, dass ich die schrecklichen letzten Laute eines Pferdewagens hörte, in dem sich außer dem Kutscher – wahrscheinlich Keckwick – auch ein Kind befand. Er musste vom Damm abgekommen und in die Marsch geraten sein, wo ihn der Schwemmsand und die steigende Flut in ein nasses Grab zogen.
    Ich schrie, bis ich glaubte, meine Lunge würde bersten. Ich rannte vorwärts, hielt jedoch schnell wieder an, weil ich nicht das geringste bisschen sehen konnte. Es war sinnlos. Ich durfte nicht hinaus in die Marsch, und selbst wenn ich mich wider alle Vernunft hinauswagte, bestand keine Chance, dass ich den Pferdewagen fand und seinen Insassen helfen konnte. Ich würde lediglich selbst in Gefahr geraten zu versinken. Nein, das Einzige, was ich tun konnte, war, zum Eel Marsh House zurückzukehren, in allen Zimmern Licht zu machen, irgendwie durch die Fenster Zeichen zu geben und zu hoffen – so unwahrscheinlich das auch war –, dass das Licht wie das eines Leuchtturms von irgendjemandem auf dem Land gesehen würde.
    Schreckensszenarien schossen mir durch den Kopf, und die Bilder, die sich vor mein inneres Auge schoben und sich nicht vertreiben lassen wollten, Bilder dieser armen Geschöpfe, die allmählich im Schlamm und Wasser erstickten und ertranken, ließen mich erzittern, und ich vergaß meine eigenen Ängste und die Einbildungen, die mich noch vor wenigen Minuten gequält hatten. Ich konzentrierte mich darauf, so schnell und sicher wie nur möglich zum Haus zurückzugelangen. Auch wenn ich wegen des Nebels und der bereits eingesetzten Dunkelheit nichts sehen konnte, hörte ich, dass das Wasser bereits dicht am Wegrand stand. Als ich endlich Gras und dann Kies unter meinen Füßen spürte, stieß ich einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und taumelte blind zur Haustür.
    Hinter mir auf den Marschen war, vom Plätschern des Wassers abgesehen, alles still, und man hätte meinen können, den Pferdewagen habe es nie gegeben.
    Als ich endlich im Haus war, gelang es mir gerade noch, einen Stuhl in der dunklen Eingangshalle zu erreichen und mich darauf fallen zu lassen, ehe meine Beine unter mir nachgaben. Ich ließ meinen Kopf in die Hände fallen und fing hilflos an zu weinen, als ich realisierte, was da draußen geschehen war.

    Wie lange ich so in tiefster Verzweiflung und Angst dasaß, weiß ich nicht. Schließlich fasste ich mich jedenfalls so weit, dass ich aufstehen, im Haus herumgehen und jedes Licht, das funktionierte, einschalten konnte. Ich ließ sie alle an, allerdings war keines sehr hell, und ich wusste insgeheim, dass das Glühen von einer Handvoll verstreuter Lampen unmöglich durch den Nebel jenseits des Damms gesehen werden konnte, selbst wenn jemand danach Ausschau halten würde. Aber ich hatte etwas getan – das Einzige, was ich tun konnte – und fühlte mich deshalb eine winzige Spur besser. Danach begann ich, Wandschränke, Sideboards und die Küchenschränke zu durchsuchen, bis ich schließlich in einem Wohnzimmerschrank eine Flasche Weinbrand fand, dreißig Jahre alt und noch ungeöffnet. Ich öffnete sie, fand ein Glas und schenkte so viel ein, wie es für einen Mann, der unter Schock stand und das letzte Mal vor vielen Stunden etwas gegessen hatte, gerade noch vertretbar war. Mrs. Drablow hatte dieses Zimmer ganz offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt. Die Möbelstücke waren vom Salz in der Luft leicht gebleicht, die Kerzenhalter und die große Silberschale auf der Tischmitte waren blind, die Leinendecke vergilbt und Porzellan und Glas staubig.
    Ich kehrte zu dem einzigen Zimmer im ganzen Haus zurück, das man mit gutem Willen gemütlich nennen konnte, obwohl es jetzt auch dort kalt und modrig war. In dem als

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