Die Frau in Schwarz
Hut wie zuvor. Der Hut schien ein wenig zurückgerutscht zu sein, denn ich konnte ihr Gesicht etwas besser sehen. Im Grau des schwindenden Tageslichts hatte es weniger den Schimmer und die Blässe von Haut als von Knochen. Am Vormittag, als ich sie angesehen hatte – zugegeben, es war jeweils nur ein flüchtiger Blick gewesen –, war mir kein besonderer Ausdruck ihres verwüsteten Gesichts aufgefallen, was wohl auch an meinem Mitleid für ihre schreckliche Krankheit gelegen haben mochte. Doch nun, da ich sie anstarrte, so sehr anstarrte, dass mir die Augen schmerzten – sie anstarrte, überrascht und bestürzt über ihre Anwesenheit hier –, sah ich durchaus einen Ausdruck in ihrem Gesicht. Es war einer, den ich nur als – und Worte erscheinen mir hoffnungslos ungenügend, um das auszudrücken, was ich sah – verzweifelte, sehnsuchtsvolle Bösartigkeit beschreiben kann. Es schien, als suche sie nach etwas, das sie wollte, brauchte, haben musste, mehr als das Leben, etwas, das man ihr genommen hatte. Und wer immer ihr das genommen hatte, auf den richtete sie mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft pure Feindseligkeit und Verachtung. Ihr Gesicht in seiner außerordentlichen Blässe, ihre tiefliegenden, unnatürlich glänzenden Augen schienen vom Feuer eines leidenschaftlichen Gefühls zu brennen, das in ihr loderte und aus ihr hervorbrach. Ob dieser Hass, diese Feindseligkeit auf mich gerichtet waren, konnte ich unmöglich sagen. Tatsächlich hatte ich überhaupt keinen Grund, es zu vermuten, aber in jenem Augenblick war ich nicht in der Lage, vernünftig und folgerichtig zu handeln.
Der ungewöhnliche, abgeschiedene Ort, das plötzliche Erscheinen dieser Frau und ihr angsteinflößender Gesichtsausdruck – all das erfüllte mich mit Furcht. Tatsächlich hatte mich Angst noch nie zuvor in meinem Leben so sehr beherrscht, nie waren meine Knie so weich gewesen, nie hatte ich so gezittert, nie war mir so kalt gewesen, nie hatte ich mein Herz in meinem trockenen Mund gespürt, ehe es wie wahnsinnig gegen meine Rippen zu hämmern begann, nie war ich vor solcher Angst, solchem Grauen, einer solchen Bösartigkeit gelähmt gewesen. Ich konnte es nicht ertragen, an diesem Ort zu bleiben, aber ich hatte keine Kraft mehr, um davonzulaufen. Ich war fest davon überzeugt, dass ich jeden Augenblick auf diesem schrecklichen Flecken Erde tot umfallen würde.
Es war die Frau, die sich bewegte. Sie glitt hinter den stehenden Grabstein, hielt sich in dem Schatten der Mauer und verschwand durch eine der Lücken in ihr. Kaum war sie weg, spürte ich wieder Leben in mir, ich konnte wieder klar denken, und plötzlich war ich wütend, ja wütend auf sie, weil sie diese Angst in mir hervorgerufen hatte. Und meine Wut verwandelte sich sofort in Entschlossenheit, ihr zu folgen und sie aufzuhalten, ihr ein paar Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, eben der Sache auf den Grund zu gehen.
Ich rannte durch das hohe Gras zwischen den Gräbern zu der Mauerlücke und kam am Rand der Flussmündung heraus. Keinen Meter vor mir löste Sand den Grasboden ab, dann begann seichtes Wasser. Rings um mich erstreckten sich die Marschen und die flachen Salzdünen, bis sie eins wurden mit der einsetzenden Flut. Ich konnte kilometerweit sehen, doch nirgendwo war eine Spur der Frau in Schwarz, und es gab auch nichts, wo sie sich hätte verstecken können.
Wer sie war – oder was – und wie sie verschwinden konnte, fragte ich mich nicht. Ich versuchte, nicht an das Gesehene zu denken, sondern drehte mich mit dem letzten bisschen Energie, die, wie ich spürte, bereits nachließ, um und begann zu laufen, begann, vom Friedhof und den Ruinen zu fliehen, um eine so große Entfernung wie nur möglich zwischen diese Frau und mich zu bringen. Ich konzentrierte mich auf mein Laufen, hörte nur meine Schritte im Gras und meinen keuchenden Atem. Ich blickte nicht zurück.
Als ich das Haus erreichte, war ich schweißgebadet von der Anstrengung und meinem aufgewühlten Inneren. Beim Aufsperren zitterte meine Hand so sehr, dass ich den Schlüssel zweimal fallen ließ, bevor ich ihn endlich im Schlüsselloch drehen konnte. Kaum war ich im Haus, schmetterte ich die Tür hinter mir zu. Der Knall fand ein Echo in allen Räumen, aber als der letzte Widerhall verstummt war, setzte eine ungeheure, drückende Stille ein. Geraume Zeit blieb ich in der dunklen, getäfelten Eingangshalle stehen. Ich sehnte mich nach Gesellschaft, aber es war niemand da.
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