Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
Ich brauchte Licht und Wärme, einen starken Drink und beruhigende Worte. Doch mehr als alles andere brauchte ich eine Erklärung. Es ist erstaunlich, welch eine gewaltige Kraft Neugier sein kann. Das war mir bisher nie bewusst gewesen. Trotz meiner großen Angst und des Schocks, den ich wahrscheinlich hatte, wollte ich unbedingt wissen, was ich wirklich gesehen hatte. Ich wusste, dass ich keine Ruhe finden würde, bevor die Sache nicht aufgeklärt war – und das, obwohl ich eben nicht gewagt hatte, draußen zu bleiben und mich weiter umzuschauen.
    Ich glaubte nicht an Geister. Oder vielmehr, bis zu jenem Tag hatte ich nicht an sie geglaubt, und welche Spukgeschichten ich auch gehört hatte, ich hatte sie wie die meisten vernünftigen jungen Männer eben als Geschichten abgetan. Dass gewisse Menschen behaupteten, für solche Dinge empfänglich zu sein, und dass es an gewissen Orten angeblich spukte, wusste ich natürlich. Aber ich hätte niemals zugegeben, dass an der Sache möglicherweise etwas dran sei, selbst wenn es Beweise gegeben hätte – und bisher hatte ich nie auch nur einen Beweis zu Gesicht bekommen. Es war erstaunlich, ich hatte immer gedacht, dass Geistererscheinungen und ähnlich seltsame Vorfälle nie aus erster Hand bekannt wurden, sondern dass jemand davon erzählte, der von jemandem darüber gehört hatte, der wiederum von jemand anderem davon wusste.
    Aber ich selbst hatte soeben draußen in den Marschen, in dem eigenartigen, schwindenden Licht und der Trostlosigkeit des vergessenen Friedhofs eine Frau gesehen, die durchaus stofflich gewesen war, und trotzdem in wesentlicher Hinsicht auch – daran zweifelte ich nicht – geisterhaft. Sie war von gespenstischer Blässe gewesen, hatte einen furchterregenden Gesichtsausdruck gehabt und Kleidung getragen, die längst aus der Mode war, hatte stets Abstand gehalten, war jedes Mal bei einem Grab erschienen und hatte kein Wort gesagt. Etwas, das von ihrer stillen, stummen Gegenwart ausging, hatte mich so stark erfasst, dass ich unbeschreiblichen Ekel und Furcht empfunden hatte. Zudem war sie auf eine Weise erschienen und verschwunden, wie es keinem lebendigen Menschen möglich war. Und doch – sie hatte keineswegs so ausgesehen, wie ich mir einen traditionellen Geist vorstellte, nämlich durchscheinend und unstofflich. Sie war echt gewesen, sie war da gewesen, ich hatte sie ganz deutlich gesehen, und ich war überzeugt, dass ich zu ihr hätte gehen, sie ansprechen, sie berühren können.
    Ich glaubte nicht an Geister.
    Was gab es sonst für eine Erklärung?
    Irgendwo in der Dunkelheit des Hauses schlug eine Uhr. Der Gong riss mich aus meinen Überlegungen. Ich schüttelte mich und zwang mich, meine Aufmerksamkeit von der Erinnerung an die Frau auf dem Friedhof ab- und dem Haus zuzuwenden, in dem ich jetzt stand.
    Von der Eingangshalle führte eine breite Eichentreppe in den ersten Stock, und an einer Seite ein Gang zur Küche, wie ich vermutete. Es gab mehrere Türen, die jedoch alle verschlossen waren. Ich schaltete das Licht in der Eingangshalle ein, aber es war sehr schwach, und ich hielt es für besser, mich, solange es noch einigermaßen hell war und bevor das Tageslicht ganz schwand, der Reihe nach in den Zimmern umzusehen, bevor ich mit meiner Suche nach den Papieren begann.
    Nach dem, was ich von Mr. Bentley und anderen nach meiner Ankunft in Crythin Gifford über Mrs. Drablow gehört hatte, war meine Phantasie über den Zustand ihres Hauses mit mir durchgegangen. Ich hatte es mir als eine Art Schrein für Erinnerungen an vergangene Zeiten vorgestellt, an ihre Jugend oder an den Mann, mit dem sie nur so kurz verheiratet gewesen war – wie das Haus der armen Miss Havisham. Oder als vernachlässigt, schmutzig, mit Spinnweben und alten Zeitungen überall und allem Möglichen in den Ecken aufgestapelt, was eine alte Frau an Unnötigem aufbewahrte – und obendrein vielleicht auch noch ein halbverhungertes Tier, eine Katze oder einen Hund.
    Doch während ich mich im Damensalon, im Wohnzimmer, im Esszimmer und im Arbeitszimmer umsah, fand ich keineswegs etwas so Dramatisches oder Unangenehmes, obwohl allem ein leicht klammer, modriger, süßsaurer Geruch anhaftete, zu dem es wohl in jedem Haus kommt, das längere Zeit unbewohnt und verschlossen ist, und schon gar in einem, das wie dieses ringsum von Marsch umgeben ist, deren Feuchtigkeit durch die Mauern dringt. Die dunklen Möbel waren altmodisch, aber von guter, solider Qualität, und

Weitere Kostenlose Bücher