Die Frau in Schwarz
alles war verhältnismäßig gut gepflegt. Allerdings waren viele Zimmer offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt, ja vielleicht nicht einmal betreten worden. Nur ein kleiner Salon am anderen Ende eines schmalen Korridors, der von der Eingangshalle wegführte, sah wirklich bewohnt aus – wahrscheinlich hatte Mrs. Drablow hier die meiste Zeit verbracht. In fast jedem Zimmer standen dicht gefüllte Bücherschränke mit Glastüren, und an den Wänden hingen schwere Bilder – nichtssagende Porträts und Ölgemälde von alten Häusern. Mein Herz sank, als ich mit den Schlüsseln, die mir Mr. Bentley mitgegeben hatte, die verschiedenen Schreibtische, Sekretäre und Schubläden aufschloss, in denen ich Schriftstücke vermutete – und tatsächlich befanden sich in allen Bündel und Schachteln mit Papieren; Briefe, Quittungen, Dokumente, Notizbücher, die mit Seidenbändern oder Bindfäden zusammengehalten und vergilbt waren. Es hatte ganz den Anschein, als hätte Mrs. Drablow in ihrem langen Leben nie ein Blatt Papier weggeworfen, egal, was darauf stand. Ganz offensichtlich würde es eine viel zeitraubendere Arbeit werden, alles auch nur oberflächlich zu sortieren, als ich erwartet hatte. Das meiste würde sich wahrscheinlich als völlig wertlos erweisen, aber trotzdem würde ich alles durchsehen müssen, ehe das, was Mr. Bentley zur Auflösung des Besitzes brauchte, zusammengepackt und nach London geschickt werden konnte. Mir war klar, dass es wenig Sinn hätte, jetzt damit anzufangen. Es war erstens zu spät, und zweitens war ich noch ziemlich mitgenommen von dem Vorfall auf dem Friedhof. Stattdessen schaute ich mich im Haus um, blickte in jedes Zimmer, fand jedoch nicht viel Aufschlussreiches. Alles war seltsam unpersönlich: das Mobiliar, die Dekoration, alles von jemandem mit wenig Stil und Geschmack zusammengestellt. Im großen Ganzen ein langweiliges, ziemlich düsteres, unfreundliches Zuhause. Nur in einer Hinsicht war es erstaunlich und etwas Besonderes: in seiner Lage. Von jedem Fenster – das in jedem Zimmer hoch und breit war – konnte man den einen oder anderen Ausschnitt der Marschen, der Flussmündung und des endlosen Himmels sehen, von dem nun jede Farbe gewichen war. Die Sonne war untergegangen, das Licht schwach, es rührte sich so gut wie gar nichts, nicht einmal das Wasser kräuselte sich, und ich konnte kaum erkennen, wo Land, Wasser und Himmel ineinander übergingen. Alles war grau. Ich zog alle Rollläden hoch und öffnete ein paar Fenster. Der Wind hatte sich gänzlich gelegt, und es war vollkommen still, von einem kaum vernehmbaren Sog abgesehen, als die Flut einsetzte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie eine alte Frau die Abgeschiedenheit Tag um Tag, Nacht um Nacht, ja gar so viele Jahre lang ausgehalten hatte. Mich hätte es verrückt gemacht. Ich beschloss, jede mögliche Minute zu arbeiten, ohne Pause, um die Papiere durchzusehen und schnell fertig zu werden.
Und doch empfand ich eine seltsame Faszination, wenn ich so über die wilden, weiten Marschen blickte. Sie besaßen eine gespenstische Schönheit, selbst jetzt in der grauen Dämmerung. Kilometerweit war absolut nichts zu sehen, und trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden. Aber für heute hatte ich genug. Genug der Abgeschiedenheit, in der nur das Wasser zu hören war und der stöhnende Wind und die melancholischen Rufe der Vögel. Genug des eintönigen Graus, genug dieses düsteren, alten Hauses. Und da es noch gut eine Stunde dauern würde, bevor Keckwick mit der Kalesche zurückkäme, beschloss ich, aufzubrechen und diesen Ort hinter mir zu lassen. Ein flotter Marsch würde mich aufrütteln, mir guttun und den Appetit anregen, und wenn ich schnell genug war, könnte ich zurück in Crythin Gifford sein, bevor Keckwick losfuhr, um mich zu holen. Und wenn nicht, würde ich ihn unterwegs treffen. Der Damm war noch sichtbar, die Wege zurück waren schnurgerade, und ich konnte mich unmöglich verlaufen.
So schloss ich die Fenster, ließ die Rollläden wieder herunter und überließ Eel Marsh House im schwindenden Novemberlicht sich selbst.
Das Geräusch von Pferd und Wagen
D raußen war es still, ich hörte lediglich meine Schritte, als ich rasch über den Kies lief, und als ich durch das Gras zum Damm stapfte, verstummte sogar dieses Geräusch. Am Himmel flogen noch ein paar Möwen heim. Ein paarmal blickte ich über meine Schulter, weil ich fast erwartete, dass mir die Frau in Schwarz folgte. Aber ich hatte mich
Weitere Kostenlose Bücher