Die Frau mit dem Hund
sie, als sie den Blick ihrer Gastgeberin sah.
Die Vorstellung, eine ganze Nacht lang ihre Wohnung mit einem Hund teilen zu müssen, war abstoÃend für Jule Tenbrock. Auf einem hellgelben Teppichboden sieht man alles, aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste, fand Jule, war das, was man nicht sehen würde.
Aber dann sah sie die zierliche Frau an, die ganz in einem der cremefarbenen Sessel versunken war, die schwarzen Ponyfransen hingen ihr unordentlich ins blasse Gesicht, womöglich hatte sie Angst, dachte Jule, auf jeden Fall war sie müde und ziemlich fertig.
Jule Tenbrock hatte das Seminar für die Wäscherei besucht. Das war nichts für empfindsame Seelen. Sie hatte gelernt, dass die Welt sich in einem Âunerbittlichen schmutzigen Mikrobenkrieg befand, den sie nicht verlieren durfte, aber zugleich hatte Jule ein Herz. Sie konnte nichts dagegen tun. Pola tat ihr leid. Ãber den Hund mochte sie nicht nachdenken.
Können Sie nicht wieder dahin, wo Sie hergekommen sind, sagte sie halbherzig.
Schon mal was von der Agrarreform gehört, sagte Pola.
Der Hund gähnte plötzlich. Er war mittelgroà und eigentlich sanft und sah freundlich aus mit seinen Schlappohren und diesen braunen Augen, solange er sein spitzes Maul nicht aufmachte, aber jetzt riss er es sehr weit auf. Seine Zähne waren eindrucksvoll. Jule Tenbrock wurde klar, dass die Frau mit dem Hund die besseren Argumente hatte und bleiben würde.
Also gut, sagte sie, aber nur diese eine Nacht.
*
Der Hund in der Nachbarwohnung lieà Timon Abramowski keine Ruhe.
Er spürte, dass dies kein Pizza- und kein Kubrick-Abend war, hier spielte sich etwas ab, das nicht in die Welt seiner Filme gehörte, sondern ins Leben, über das er nachdenken sollte, weil es womöglich gefährlich werden würde. Gedächtnis und Zukunft, dachte Timon und verstand plötzlich, wie beide miteinanÂder zusammenhingen, weil die Zukunft jetzt da war und sein ganzes Gedächtnis brauchen würde.
Timon Abramowski kannte seine Nachbarin nicht besonders gut. Wie man sich eben kennt. Ein paarmal hatte er einen Blick in ihre Wohnung werfen können, die vollgestopft mit Gewinnplunder und Dekorationsschnickschnack war; er hatte daraus geschlossen, dass sie kein Bingo auf Kabel 7 je ausgelassen hatte und jede Menge Sterne für Kuschelig-Wohnen gesammelt haben musste, und wann Âimmer im Managementbüro des Distrikts ein Nachbarschaftsprojekt ausgeschrieben war, für das man den Finger heben konnte, hatte sie als Erste das Kreuz an ihrem Namen auf der Liste hinterlassen.
Die Wäscherei, fand Abramowski, war genau der richtige Ort für die Tenbrock, von der Wäscherei bis zur Stiftung wäre es nur ein kurzer Weg auf der Karriereleiter, und er war sicher, dass sie schon dabei war, die Leiter hochzuklettern. Betriebstechnik und Hygiene. Kaum hatte sie die Seminare absolviert, fing sie an, mit dem Vaporix herumzuballern und im Haus ihre Duftmarken zu verbreiten: »Dark Lavender«, »Bitter Orange«, »Glamourose«. Und dann schnappte sie sich prompt den Typ, den die Hygiene-Leute von der Stiftung für die Schulungen Ârüberschicken und der so aussah, als ob er im elften Distrikt wohnte, bestimmt mit Frau und Kindern, denen er seine abendlichen Ausflüge hierher als sonst was verkaufte: Ãberstunden, Bonuspunkte für den Familienpark, damit die Kinder mal rauskommen und Karussell fahren konnten oder im Kristallpalast Schlittschuh laufen.
Wie auch immer, Jule Tenbrock kannte das Haustierverbot so gut wie die Seuchenverordnung und würde niemals dagegen verstoÃen, nicht gegen diese beiden und nicht gegen irgendeine andere Verordnung, sie brachte brav jeden Tag ihre Verpackungen zum Super-K oder zur Superette zurück, legte ihre Angebotsinfos, nachdem sie sie gelesen hatte, fein säuberlich zusammengefaltet unten im Hausflur auf die Abholstapel, immer getrennt nach Super-K, Superette und Konsomarkt, als ob es bei der Altpapierverwertung eine Rolle spielte, auf welchem Stapel eine gelesene Angebotsinfo lag, und Timon hätte wetten können, dass sie vorbildlich Strom und Wasser sparte und eine CO 2 -Bilanz hatte, mit der sie noch einmal Distrikt-Bürgerin oder Empowerment-Heldin des Jahres werden könnte.
Abgesehen davon, dass Jule Tenbrock überhaupt kein Verstoà gegen irgendetwas zuzutrauen war: Es war Abramowski noch immer ein Rätsel, wie sie
Weitere Kostenlose Bücher