Die Frau mit dem Muttermal - Roman
der Hand hielt … Ein gewisser André Melgarves hatte also aus Kinsale, Irland, angerufen und mitgeteilt, dass er Informationen hatte, die für die laufende Ermittlung von Interesse sein könnten. Man möchte doch bitte zurückrufen. Telefonnummer und Adresse waren genauestens notiert.
»Wann ist das gekommen?«, fragte Moreno.
Jung schaute auf die Rückseite der Karteikarte.
»Vorgestern«, sagte er. »Was meinst du, darum soll sich der Chef am besten gleich selbst kümmern, oder?«
»Das denke ich auch«, sagte Moreno. »Geh damit zu ihm rein, aber erzähle ihm nicht, dass das schon zwei Tage alt ist … ich fand, er war heute Morgen reichlich muffelig.«
»Ach, wirklich?«, gab Jung seinen Kommentar und stand auf.
Der junge Mann trug Jeans und ein T-Shirt, auf dem stand »Big is Beautiful«. Er war sonnengebräunt, und das kurz geschnittene Haar auf seinem Schädel stand aufrecht wie ein reifes Weizenfeld. Er kaute irgendetwas und blickte zu Boden.
»Name?«, fragte Van Veeteren.
»Pieter Fuss.«
»Alter?«
»Einundzwanzig.«
»Beruf?«
»Bote.«
»Bote?«
»Bei einem Sicherheitsdienst.«
Ach, fast ein Kollege, dachte Van Veeteren und schluckte das Gefühl der Ohnmacht herunter.
»Ich bin für deinen Fall nicht zuständig«, erklärte er, »aber ich habe dir so einiges zu sagen und hätte gerne Antwort auf ein paar Fragen. Zumindest auf eine.«
Pieter Fuss schaute auf, aber als er den Blick des Kommissars traf, betrachtete er sofort lieber wieder seine Joggingschuhe.
»Am Freitag, dem 23. Februar«, führte Van Veeteren aus, »gegen halb ein Uhr nachts, ging ich am Kongers Plejn um die Ecke. Ich war auf dem Heimweg nach einem Abend mit ein paar guten Freunden. Plötzlich wurde mir der Weg von dir und vier anderen jungen Männern versperrt. Einer deiner Kumpel hat mich gegen die Wand gedrückt. Du hast mir ins Gesicht geschlagen. Nach einer Weile habt ihr mich auf den Boden runtergepresst. Ihr habt mich geschlagen und getreten. Du hast mich noch nie vorher gesehen. Meine Frage lautet: Warum?«
Pieter Fuss verzog keine Miene.
»Hast du die Frage verstanden?«
Keine Antwort.
»Warum gehst du auf einen Fremden los? Schlägst ihn
und trittst ihn? Darauf muss es doch wohl eine Antwort geben?«
»Ich weiß nicht.«
»Sprich etwas lauter. Ich nehme das Verhör auf.«
»Ich weiß nicht.«
»Ich verstehe dich nicht. Weißt du nicht, warum du etwas tust?«
Keine Antwort.
»Ihr wart fünf gegen einen. Findest du das in Ordnung?«
»Nein.«
»Du machst also Sachen, die du selbst nicht in Ordnung findest?«
»Ich weiß nicht.«
»Wenn du es nicht weißt, wer soll es dann wissen?«
Keine Antwort.
»Was meinst du, welche Strafe du verdient hast?«
Pieter Fuss murmelte etwas.
»Lauter!«
»Ich weiß nicht.«
»Allright«, sagte Van Veeteren. »Jetzt hör mal zu. Wenn du mir keine ordentliche Antwort auf die Frage ›warum‹ geben kannst, werde ich zusehen, dass du mindestens sechs Monate dafür kriegst.«
»Sechs Monate?«
»Mindestens«, erklärte Van Veeteren. »Wir können solche Leute nicht frei rumlaufen lassen, die nicht einmal wissen, warum sie auf ihre Mitmenschen losgehen. Du hast zwei Tage Zeit, dir das in Ruhe zu überlegen …«
Er machte eine Pause. Einen Augenblick lang schien es, als wollte Pieter Fuss etwas sagen, aber dann klopfte es an der Tür, und Jung steckte seinen Kopf herein.
»Ist der Hauptkommissar beschäftigt?«
»Keine Spur.«
»Ich glaube, wir haben einen Hinweis, der etwas bringen kann.«
»Woher?«
»Einer aus der Gruppe hat aus Irland angerufen. Wir haben angenommen, der Hauptkommissar will das selbst übernehmen?« Er gab ihm die Karte.
»Okay«, sagte Van Veeteren. »Kannst du diesen vielversprechenden Jüngling mit zum diensthabenden Kollegen runternehmen. Aber sei vorsichtig, er weiß nicht so genau, was er tut …«
Pieter Fuss stand auf und zog mit Jung zusammen ab. Der Hauptkommissar las die Notizen auf der Karteikarte. André Melgarves?, überlegte er und runzelte die Stirn. Dann rief er die Telefonzentrale an und bat sie, ihn mit der Nummer zu verbinden. Zehn Minuten später hatte er den Betreffenden in der Leitung.
»Mein Name ist Van Veeteren. Ich leite die Ermittlungen. Sie haben mitteilen lassen, dass Sie Informationen für uns haben.«
»Ich weiß nicht, ob es wirklich wichtig ist«, erklärte Melgarves, und sein Zögern war fast deutlicher in der knisternden Leitung zu hören als die Worte selbst.
»Schießen Sie los«,
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