Die Frau mit dem Muttermal - Roman
Wirklichkeit hatte sie die Anzeige schon den dritten Freitag nacheinander aufgegeben, und außer einem unangenehmen Deutschen, der so gut wie alles, was misszuverstehen war, wohl missverstanden hatte und sicher nach saurer Wurst roch, war er der Einzige, der sich gemeldet hatte. Warum sollte sie da zögern? Ein Monat war schließlich ein Monat.
»Wollen wir sagen, 500 Gulden?«, fragte sie. »Es ist ja etwas umständlich, die Anzeige wieder aufzugeben, wenn Sie ausgezogen sind …«
»Mit 500 bin ich einverstanden«, antwortete er schnell, und so wurden sie sich einig.
Am Nachmittag zeichnete sie eine Karte und schrieb auf, wie man dorthin kam. Ein Kilometer hinter der Kirche von Wahrhejm. Den Seitenweg mit dem handgemalten Schild nach links. Dann zweihundert Meter durch den Wald bis zum Wasser. Drei Häuser. Das rechte war ihrs.
Die Schlüssel und die Gebrauchsanweisung für die etwas komplizierte Wasserpumpe. Für den Herd und die Stromzufuhr. Das Boot und die Ruder.
Sie war gerade fertig, als er eintraf. Ein ziemlich blasser junger Mann. Er war klein an Wuchs und hatte etwas Feines an sich, wie sie fand. Natürlich wollte sie ihm Kaffee anbieten, hatte ihn sogar schon fertig, aber er lehnte dankend ab. Er wollte sich so schnell wie möglich ans Schreiben machen. Natürlich, das verstand sie. Er war in keiner Weise unhöflich oder hölzern. Ganz im Gegenteil. Er war zuvorkommend, wie sie es gegenüber Beatrix Hoelder und Marcela Augenbach formulieren würde.
Zuvorkommend und höflich.
Also ein Schriftsteller. Als er gegangen war, ließ sie das Wort auf der Zunge zergehen. Schriftsteller. Das hatte zweifellos eine gewisse Süße. Ihr gefiel der Gedanke, dass jemand in ihrem kleinen Haus am Meer saß und schrieb, und vielleicht hegte sie auch die leise Hoffnung, dass er in Zukunft an sie denken und ihr ein Exemplar seines Buches schicken würde. Das heißt, wenn es fertig war. Was sicher seine Zeit dauerte, wie sie vermutete. Mit den Verlegern und so. Vielleicht sogar mit Widmung? Sie beschloss, an einem der folgenden Tage in die Bibliothek zu gehen und nachzusehen, ob es etwas von ihm in den Regalen gab. Mühlen, hieß er so? Ja, das stand auf dem Vertrag, den sie unterzeichnet hatten. Alfons Mühlen, wenn sie es richtig entzifferte. Er war leicht feminin, dieser Gedanke kam ihr ungewollt, sie überlegte, ob er wohl
homosexuell war. Viele Schriftsteller waren das, auch wenn sie es nicht zugaben, hatte Beatrix mehrfach behauptet, aber sie behauptete sowieso alles Mögliche.
Jedenfalls hatte sie nie etwas von ihm gehört, das wusste sie genau. Und Beatrix und Marcela auch nicht, aber wie gesagt, er war ja auch noch ziemlich jung.
Hatte ohne zu zögern bar bezahlt, jedenfalls. Fünfhundert Gulden. Sie wäre mit dreihundert zufrieden gewesen. Also war es ein ausgezeichnetes Arrangement, wenn man es von allen Seiten betrachtete.
Alfons Müller?
Doch, vielleicht hatte sie den Namen schon einmal gehört.
38
Er fror.
Den fünften Morgen nacheinander war er aufgewacht, weil er fror.
Den fünften Morgen nacheinander brauchte er weniger als eine Sekunde, um sich daran zu erinnern, wo er war.
Den fünften Morgen nacheinander tastete er nach der Pistole und schaute aus dem Fenster.
Das Haus lag in der zögernden Morgendämmerung da. Ebenso unberührt, ebenso unbesucht und ahnungslos wie es dagelegen hatte, als er irgendwann des Nachts eingeschlafen war. Unangetastet. Sie kam nicht. War auch in dieser Nacht nicht gekommen. Die Kälte ließ seinen Körper schmerzen, es war einfach unbegreiflich, dass es nicht möglich war, sich hier oben warm zu halten, trotz Bettdecke und Wolldecken im Überfluss. Jeden Morgen war er beim Morgengrauen vollkommen durchfroren aufgewacht. Hatte einen Kontrollblick durchs Fenster geworfen, war die Treppe hinuntergestiegen und in die Ofenwärme des Hauses gegangen. Er feuerte abends immer kräftig ein, wenn er aus dem Wirtshaus zurückkam,
ein solides Feuer im Eisenofen in der Küche, so dass sich die Wärme bis zum nächsten Vormittag hielt.
Wie auch heute. Er horchte angespannt; draußen in der rauen Morgenluft und drinnen im Haus. Die Waffe in der Hand. Entsichert.
Dann trank er am Küchentisch seinen Kaffee. Auch ein paar Zentiliter Whisky, um die Kälte aus dem Körper zu vertreiben. Dann die Sieben-Uhr-Nachrichten im Radio, während er versuchte, den vor ihm liegenden Tag zu planen. Die Pistole in der Nähe seiner Hand auf der abgenutzten, fünfzig Jahre alten
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