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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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die alten Weiber, der schlechte Weg und jetzt auch noch eine Fahrt auf dem Lastwagen.«
    »Aber das ist das wahre China. Was ist daran verkehrt?«
    »Die Alten haben Sie ganz schön ausgenommen.«
    »Gehen Sie nicht zu hart mit ihnen ins Gericht. Arme Leute gibt es überall. Nehmen Sie die Obdachlosen in New York. Es gibt Legionen von ihnen. Ich bin nicht reich, aber wenn ich ihnen mein Wechselgeld gebe, treibt mich das nicht in den Ruin.«
    Als er sie ansah, wie sie in ihrer zerknitterten, verschwitzten Kleidung und ohne Schuhe auf dem Pappkarton saß, wurde ihm klar, daß sie viel mehr war als eine lebhafte, attraktive Kollegin; sie besaß Ausstrahlung.
    »Nett, daß Sie das sagen«, erwiderte er. Aber dennoch sollte er, ein Parteimitglied, einer Amerikanerin nicht gerade die Armut in den ländlichen Gebieten Chinas vorführen, auch wenn diese ihm im Gegenzug von den Obdachlosen in New York erzählte. Da flüchtete er sich lieber in seine Rolle als Fremdenführer. »Sehen Sie dort, das ist die Liuhe-Pagode.«
    Der Lastwagen setzte sie ein paar Straßen vor dem Xuan-ming-Tempel an der Guanqian Lu ab. Der Fahrer streckte den Kopf aus dem Führerhäuschen und sagte: »Weiter ins Stadtzentrum darf ich nicht. Die Polizei hält mich an, wenn ich Leute auf der Ladefläche habe. Aber hier kriegen Sie mit Sicherheit einen Bus. Zum Tempel können Sie auch zu Fuß gehen.«
    Chen sprang als erster vom Wagen. Fahrräder sausten an ihm vorbei. Als er ihr Zögern bemerkte, streckte er die Arme aus, und sie ließ sich von der Ladefläche heben.
    Bald kam der großartige taoistische Tempel an der Guanqian Lu in Sicht. Auf dem Vorplatz sahen sie einen Markt mit Imbißbuden und Ständen, die lokale Produkte feilboten; kunstgewerbliche Kleinigkeiten wie Bilder und Scherenschnitte, die es in den normalen Läden nicht gab.
    »Hier geht es ja kommerzieller zu, als ich vermutet hätte«, sagte sie und griff dankbar nach der Flasche Sprite, die er für sie gekauft hatte. »Aber das ist wohl unvermeidlich.«
    »Suzhou liegt zu nahe bei Shanghai, um wirklich anders zu sein. Daran sind die ewigen Touristenströme schuld«, sagte er.
    Um in den Tempel zu gelangen, mußten sie Eintrittskarten kaufen. Durch das messingbeschlagene rote Tor konnten sie einen Ausschnitt des gepflasterten Innenhofs sehen, der mit Pilgern und Weihrauchschwaden angefüllt war.
    Der rege Betrieb überraschte sie. »Ist der Taoismus so populär im heutigen China?«
    »Betrachtet man die Zahl der taoistischen Tempel, dann ist er es nicht. Aber als Lebensphilosophie hat er großen Einfluß. So sind zum Beispiel die Leute, die im Bund-Park Tai-Chi üben, in gewisser Weise Anhänger eines säkularen Taoismus. Sie glauben, daß das Weiche das Harte besiegt und das Langsame dem Schnellen voraus ist.«
    »Ja, yin verwandelt sich in yang und yang in yin, alles befindet sich im Prozeß stetigen Wandels. Ein Oberinspektor wird zum Fremdenführer oder gar zum postmodernen Dichter.«
    »Und ein U.S. Marshai wandelt sich zur Sinologin«, fügte er hinzu. »Was die Praktiken seiner Anhänger angeht, so unterscheidet sich der Taoismus nicht wesentlich vom Buddhismus. Kerzen und Weihrauch werden in beiden Religionen abgebrannt.«
    »Wenn man einen Tempel baut, lassen die Gläubigen nicht auf sich warten.«
    »So könnte man es ausdrücken. In unserer zunehmend materialistischen Gesellschaft wenden sich viele dem Buddhismus, dem Taoismus oder dem Christentum zu und suchen dort nach spirituellen Antworten.«
    »Und was ist mit dem Kommunismus?«
    »Daran glauben die Parteimitglieder, aber in dieser Übergangsphase tun sie sich schwer damit. Die Menschen wissen nicht, was der nächste Tag ihnen bringen wird. Daher ist es gut, wenn sie etwas haben, woran sie glauben können.«
    »Und wie ist das bei Ihnen?«
    »Ich glaube daran, daß China sich in die richtige Richtung entwickelt …«
    Ein Priester in gelbseidenem Gewand trat auf sie zu und ersparte Chen weitere Stellungnahmen. »Willkommen, ehrenwerte Wohltäter. Möchten Sie vielleicht ein Stäbchen ziehen?« Er hielt ihnen einen Bambusköcher hin, in dem ein Bündel Schafgarbenstengel steckte, jeder mit einer Nummer versehen.
    »Was ist das?« fragte sie.
    »Eine Art Orakel«, erklärte Chen. »Wählen Sie ein Stäbchen. Es kann Ihnen sagen, was Sie wissen wollen.«
    »Wirklich!« Sie zog eines heraus. Es trug die Nummer 157.
    Der Taoist führte sie zu einem großen hölzernen Stehpult und schlug in einem Buch die Seite mit der

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