Die Frau mit dem roten Herzen
entsprechenden Nummer auf. Dort stand ein vierzeiliges Gedicht:
Umringt von Bergen scheint ausweglos das Tal;
Weiden bieten Schatten, Blumen grüßen, ein Dorf taucht auf.
Unter der Herzensbrecherbrücke fließen grün die Wasser des Frühlings,
in denen einst die Schöne sich spiegelte und die Wildgänse verscheuchte.
»Was will uns das Gedicht sagen?« fragte sie.
»Klingt interessant, aber interpretieren kann ich es nicht«, entgegnete Chen. »Das wird der Taoist gegen eine Gebühr für Sie tun.«
»Wieviel?«
»Zehn Yuan«, antwortete der Taoist. »Sie werden neue Einblicke erlangen.«
»Na gut.«
»Über welchen Zeitraum möchten Sie etwas erfahren – über die Gegenwart oder über die Zukunft?«
»Über die Gegenwart.«
»Und worüber wollen Sie etwas erfahren?«
»Über eine Person.«
»Dann ist die Antwort eindeutig.« Der Taoist setzte ein beflissenes Lächeln auf. »Was Sie wissen wollen, liegt unmittelbar vor Ihnen. Das erste Zeilenpaar spricht von einer plötzlichen Veränderung in einer zunächst ausweglosen Lage.«
»Und was sagt das Gedicht noch?«
»Es könnte auf eine Liebesbeziehung hindeuten, das zweite Zeilenpaar macht das deutlich.«
»Jetzt bin ich ganz verwirrt«, sagte sie und wandte sich hilfesuchend an Chen. »Sie sind derjenige, der in meiner unmittelbaren Nähe ist.«
»Das Gedicht bleibt bewußt mehrdeutig«, bemerkte Chen amüsiert. »Ich bin in Ihrer unmittelbaren Nähe, nach wem suchen Sie also? Es könnte sich doch auch um Wen handeln.«
Sie begannen ihren Rundgang durch den Tempel und betrachteten die Götterstatuen aus Gips, die auf Steinkissen ruhten – das taoistische Pantheon. Als sie außer Hörweite des Mönchs waren, bohrte sie weiter. »Sie sind doch ein Dichter, Chen. Bitte erklären Sie mir diese Zeilen.«
»Das Gedicht und die darin enthaltenen Weissagungen können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Sie haben für das Wahrsagen bezahlt, also müssen Sie sich mit der Interpretation des Mönchs zufriedengeben.«
»Aber was ist mit der Schönen, die die Wildgänse verscheucht?«
»Im alten China gab es vier legendäre Schönheiten. Sie waren so schön, daß man auf ihren Anblick nur mit Betroffenheit reagieren konnte: die Vögel flogen auf, die Fische tauchten ab, der Mond verbarg sich und die Blüten schlossen ihre Kelche. Später benutzte man diese Metaphern, um außergewöhnliche Schönheit zu beschreiben.«
Sie spazierten weiter und traten in den Innenhof. Wie jede amerikanische Touristin machte sie begeistert Fotos und suchte immer neue Blickwinkel.
Dann hielt sie eine Frau in mittlerem Alter an und bat, ob sie ein Bild von ihnen beiden machen könnte. Sie stellte sich so dicht neben ihn, daß ihr leuchtendes Haar seine Schulter berührte. Vor dem Hintergrund des Tempelgebäudes strahlte sie in die Kamera.
Der Markt auf dem Vorplatz wimmelte von Menschen. Sie sah sich eine Weile nach exotischen, aber preiswerten Mitbringseln um. Große Körbe mit duftenden Kräutern verbreiteten ein köstliches Aroma. Daneben bot eine alte Bauersfrau winzige Vogelnester, Tee aus Suzhou und getrocknete Pilze feil, und Catherine feilschte mit ihr. An einer Bude mit folkloristischem Spielzeug rasselte Chen mit einer beweglichen Papierschlange, die an einem Bambusstecken befestigt war und ihn an seine Kindheit erinnerte.
Sie suchten sich einen Tisch im Schatten eines großen Sonnenschirms. Er bestellte die typischen Suzhouer Teigtäschchen, gepulte Krabben mit zarten Teeblättern und Suppe aus Hühner- und Entenblut. Doch das Gedicht ließ Catherine nicht los, und sie erkundigte sich kauend weiter bei ihm.
»Beide Zeilenpaare sind von Lu You, einem Dichter aus der Song-Dynastie, entstammen aber unterschiedlichen Gedichten«, erklärte er. »Das erste wird häufig zitiert und beschreibt eine abrupte Veränderung. Hinter dem zweiten steckt eine tragische Geschichte. Als er schon über siebzig war, kam Lu an den Ort zurück, an dem er Shen, die große Liebe seines Lebens, zum ersten Mal gesehen hatte. Er schrieb diese Zeilen, während er in die grünen Fluten unter der Brücke starrte.«
»Was für eine romantische Geschichte«, sagte sie und schob sich einen Löffel Blutsuppe in den Mund.
27
Es DÄMMERTE , als sie ins Hotel zurückkamen.
Von Catherines Zimmer aus rief Oberinspektor Chen Hauptwachtmeister Yu an. Yu wußte um Inspektor Rohns Anwesenheit und sagte nicht viel, nur daß eine Kassette mit einer weiteren Vernehmung zu Chen unterwegs
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