Die Frau mit dem roten Herzen
einer von denen gesetzten Frist. Wir müssen uns deswegen kein Bein ausreißen.«
»Ich hatte noch nie einen so brisanten internationalen Fall zu bearbeiten. Bitte geben Sie mir genaue Anweisungen, Parteisekretär Li.«
»Bisher haben Sie hervorragende Arbeit geleistet. Selbst die Amerikaner müssen anerkennen, daß wir unser Bestes tun. Nur darauf kommt es an.«
»Vielen Dank«, sagte Chen, der Lis Methode kannte, Maßregelungen durch Freundlichkeiten einzuleiten.
»Als alter Hase möchte ich dennoch ein paar Vorschläge machen. Ihr Besuch beim Alten Ma zum Beispiel war vielleicht keine so gute Idee. Er mag ein guter Arzt sein, daran zweifle ich nicht; ich erinnere mich noch gut, wie Sie ihm geholfen haben.«
»Aber warum nicht, Parteisekretär Li?«
»Die Mas haben Gründe, sich kritisch über das System zu äußern«, sagte Li und legte die Stirn in Falten. »Haben Sie Inspektor Rohn die Geschichte von Doktor Schiwago in China erzählt?«
»Ja. Sie hat mich danach gefragt.«
»Die Kulturrevolution war eine Katastrophe für unser Land. Unzählige Menschen hatten darunter zu leiden. Eine solche Geschichte ist hier nichts Neues, aber für eine Amerikanerin könnte sie sensationell wirken.«
»Aber das Ganze ist doch noch vor der Kulturrevolution passiert.«
»Nun, das ist wie bei einer Ermittlung«, erwiderte Li. »Auch das Zurückliegende zählt.«
Lis Tadel überraschte Chen, doch konnte er ihn nicht völlig von der Hand weisen.
»Außerdem beunruhigt mich dieser Unfall, der in Zhus Haus passiert ist. Diese alten Gebäude mit ihren dunklen, baufälligen Treppenhäusern. Zum Glück ist ihr nichts Ernsthaftes zugestoßen, aber die Amerikanerin könnte mißtrauisch werden.«
»Tja …« Ich bin es, der mißtrauisch geworden ist, dachte Chen, sprach es aber nicht aus.
»Deshalb muß ich noch einmal betonen, daß Sie alles tun müssen, um Inspektor Rohns Sicherheit und Zufriedenheit zu gewährleisten. Denken Sie sich eine andere Beschäftigung für sie aus. Sie haben doch schon öfter Besucher aus dem Westen geführt. Eine Fahrt auf dem Fluß ist ein Muß für jeden Touristen. Ebenso ein Gang durch die Altstadt«, sagte Li. »Ich meinerseits werde sie in die Peking-Oper einladen. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich Karten habe.«
Parteisekretär Li wollte also, daß er die Ermittlungen einstellte, auch wenn er das nicht explizit aussprach.
Aber warum? Chen war wie vor den Kopf gestoßen. Er mußte in Ruhe nachdenken. Wie er anfangs schon vermutet hatte, war sein Auftrag reine Schau gewesen. Er sollte nur den Anschein von Aktivität erwecken, nicht aber Ergebnisse erzielen. Wenn er tatsächlich etwas erreichen wollte, so würde er ohne Wissen des Präsidiums handeln müssen.
Auf dem Heimweg versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, doch als sein Wohnblock in Sicht kam, war er noch immer verwirrt.
Während er das Licht in der Wohnung anknipste, verglich er deren Beengtheit mit Lis Wohnsituation. Hier zeugte kein Orchideenduft vom erlesenen Geschmack des Hausherrn; keine seidenkaschierten Hängerollen präsentierten die Kalligraphie anerkannter Meister. Zimmer sind wie Frauen, dachte Chen, man darf sie nicht miteinander vergleichen.
Dann nahm er die Kassette mit den Vernehmungen zur Hand, die Yu in dem Dorf in Fujian aufgenommen hatte. Sie war ihm per Eilboten zugestellt worden. Die Gespräche mit Wens Nachbarn hatten keine neuen Informationen gebracht. Die Abneigung, die jedem von ihnen anzumerken war, schien verständlich, wenn man bedachte, welche Rolle Feng während der Kulturrevolution gespielt hatte.
Der Oberinspektor fand die Isolation, in die Wen sich gebracht hatte, zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Während seiner Anfangsjahre im Polizeidienst hatte auch er sich von seinen früheren Freunden distanziert, die ihre Stellen als Dolmetscher im Auswärtigen Dienst oder als Universitätsdozenten antraten. Weder er selbst noch seine Freun de hatten je an eine Karriere bei der Polizei gedacht. Ironischerweise lag gerade darin der Impuls für seine literarischen Übersetzungen und eigenen Schreibversuche.
Wen war zweifellos eine stolze Frau.
Das Band lief weiter zur Vernehmung von Miao, der Besitzerin des einzigen Privattelefons im Ort. Sie berichtete, wie die Dorfbewohner sie für ihre Anrufe bei Verwandten in Übersee bezahlten. Auch die Anrufe aus dem Ausland liefen alle über ihren Apparat. Miao erläuterte: »Wenn jemand aus dem Ausland anruft, kann es ziemlich lange dauern, bis der
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