Die Frau mit dem roten Herzen
einen Schluck Wein zu trinken, »zu denen auch eine Reporterin der Wenhui-Zeitung gehört …«
»Gehörte«, sagte er und leerte in einem Zug sein Glas. »Sie lebt inzwischen in Japan.«
»Oh.«
Sein Handy klingelte.
»Ach Sie sind’s, Alter Jäger. Was gibt es?« Er lauschte eine Weile schweigend und sagte dann: »Dann muß es also jemand Wichtiges sein, verstehe. Ich rufe Sie später wieder an, Onkel Yu.«
Er schaltete das Telefon aus und sagte: »Das war der Alte Jäger, der Vater von Hauptwachtmeister Yu.«
»Arbeitet sein Vater auch für Sie?«
»Nein, der ist längst pensioniert. Aber er hilft uns bei einem anderen Fall«, erklärte er und stand auf. »Ich muß jetzt gehen.«
Er konnte nicht länger bleiben. Sie wußte nichts von diesem anderen Fall, und er würde ihr nichts erzählen. Es ging sie nichts an.
Als sie aufzustehen versuchte, legte er ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Entspannen Sie sich, Inspektor Rohn. Wir haben morgen eine Menge zu tun. Gute Nacht.«
Er schloß die Tür hinter sich.
Der Klang seiner Schritte entfernte sich auf dem Korridor. Dann folgte das Bremsgeräusch des ankommenden Aufzugs und dessen langsames Sinken.
Was immer Inspektor Rohns Vorbehalte gegen ihren chinesischen Partner und dessen Vertuschungsaktionen waren, für diesen Abend war sie ihm dankbar.
11
C HEN KONNTE den Alten Jäger nicht erreichen. Er war so vertieft gewesen in die Doktor-Schiwago-Geschichte und seine attraktive amerikanische Zuhörerin, daß er vergessen hatte zu fragen, von wo aus der alte Herr ihn angerufen hatte. Er beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen; vielleicht würde ja unterwegs sein Handy klingeln.
Und es klingelte an der Kreuzung Sichuan Lu, doch es meldete sich Hauptwachtmeister Yu.
»Jetzt haben wir die Bescherung, Chef.«
»Welche Bescherung?«
Yu berichtete über den Vorfall mit der Lebensmittelvergiftung und schloß mit der Feststellung: »Die Bande hat Verbindungen zur Polizei in Fujian.«
»Vermutlich haben Sie recht«, sagte Chen und verkniff sich den Nachsatz: Und nicht nur zur Polizei in Fujian. »Wir haben es zwar mit einer gemeinsamen Ermittlung zu tun, aber das heißt nicht, daß wir die Kollegen ständig auf dem laufenden halten müssen. Was immer Sie unternehmen, tun Sie es allein. Die Reaktion der dortigen Dienststelle braucht Sie nicht zu kümmern. Ich trage die Verantwortung.«
»Verstehe, Oberinspektor Chen.«
»Von jetzt an rufen Sie mich nur noch zu Hause oder auf dem Handy an. Auch Faxe bitte nur noch zu mir nach Hause. Im Notfall können Sie den Kleinen Zhou kontaktieren. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Passen Sie auch auf sich auf.«
Die Sache mit der Lebensmittelvergiftung ließ ihn an Inspektor Rohn denken. Erst das Motorrad, dann der Unfall auf der Treppe.
Womöglich wurden sie verfolgt. Während sie sich oben mit Zhu unterhalten hatten, konnte jemand die Treppe angesägt haben. Unter anderen Umständen hätte Oberinspektor Chen eine solche Idee in den Bereich des Phantastischen verwiesen, doch sie hatten es hier mit Triaden zu tun.
Alles war möglich.
Die Geheimgesellschaft operierte offenbar an zwei Fronten gleichzeitig: in Shanghai und in Fujian. Und sie war erfinderischer und berechnender, als er gedacht hatte. Ihre Anschläge, wenn es denn solche waren, hatte sie so geschickt als Unfälle getarnt, daß keine Spur zu den Tätern führte.
Er überlegte, ob er Inspektor Rohn warnen sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Die Allgegenwart dieser Verbrecher würde das moderne China in keinem günstigen Licht erscheinen lassen. Er mußte immer auch die nationalen Interessen im Auge behalten. Die Amerikanerin durfte auf keinen Fall einen negativen Eindruck von China und der chinesischen Polizei mit nach Hause nehmen.
Nach einem Blick auf seine Armbanduhr beschloß er, Parteisekretär Li zu Hause anzurufen. Dieser lud ihn ein, noch kurz vorbeizukommen.
Die Lis residierten in einer Wohnanlage für höhere Kader an der Wuxing Lu. Der Komplex war von einer hohen Mauer umschlossen und von bewaffneten Soldaten bewacht. Sie salutierten steif, als Chen das Eingangstor passierte.
Parteisekretär Li empfing ihn in dem geräumigen Wohnzimmer seiner Vier-Zimmer-Wohnung. Der Raum war sparsam möbliert, war aber allein schon größer als Lihuas gesamte Wohnfläche. Chen ließ sich in einem Sessel neben einem Topf seltener Orchideen nieder. Sie schaukelten leicht in der Brise, die durch das
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