Die Frau mit dem roten Herzen
Familienangehörige ans Telefon geholt worden ist. Weil die Telefongebühren für solche Ferngespräche sehr hoch sind, rufen manche zu einer verabredeten Zeit an. Bei Feng war es immer Dienstag abends gegen acht. In den ersten zwei, drei Wochen hat er allerdings öfter angerufen. Einmal war Wen nicht zu Hause, ein andermal weigerte sie sich, den Anruf entgegenzunehmen. Die beiden kamen nämlich nicht sonderlich gut miteinander aus. Wer kann ihr das verübeln bei einem solchen Ehemann. Eine frische Blume, die in einem Kuhfladen erblüht. Es ist sowieso erstaunlich, daß er jede Woche anruft. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er schon so viel Geld verdient, wo er doch erst wenige Monate dort ist …«
Er hielt das Band an, spulte zurück, hörte es noch einmal ab, stoppte wieder und machte sich eine Notiz. Dann ließ er das Band weiterlaufen.
»Jedenfalls ist Wen Dienstag abends gegen acht hergekommen, um auf seine Anrufe zu warten. Aber der letzte Anruf kam außer der Reihe, an einem Freitag. Das weiß ich noch genau. Feng sagte, es sei dringend. Deshalb mußte ich losrennen und sie holen. Ich weiß nichts über den Inhalt des Gesprächs, aber danach war sie ziemlich aufgeregt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, Hauptwachtmeister Yu.«
Als das Band zu Ende war, zündete sich Oberinspektor Chen eine Zigarette an und versuchte nachzudenken.
Normalerweise gab es in den ersten Tagen einer Vermißtenmeldung viele Hinweise, denen man nachgehen mußte, doch sobald diese abgearbeitet waren und sich keine erfolgversprechende Spur ergab, traten die Ermittlungen auf der Stelle. Dennoch gab es in diesem Fall einige Details, die der Untersuchung wert waren. Warum zum Beispiel hatte sich Wen geweigert, ein kostspieliges Ferngespräch entgegenzunehmen? Selbst wenn ihre Beziehung nicht gut gewesen war, hätte sie doch wohl ihrem Mann in die Vereinigten Staaten folgen wollen.
Er zog sich die Schuhe aus, legte sich aufs Sofa und nahm die Wenhui-Zeitung zur Hand. Er überflog einen Artikel über Ärzte und Krankenschwestern, die »Rote Umschläge« und andere Bestechungsgeschenke entgegengenommen hatten. Vielleicht war auch das ein Grund, warum die Apotheke von Herrn Ma sich solcher Beliebtheit erfreute. Besuche in staatlichen Krankenhäusern wurden zwar von der Krankenkasse bezahlt, doch die Summen, die man in solche »Roten Umschläge« stecken mußte, um gut behandelt zu werden, konnten sehr hoch sein. Manche nannten es Korruption, andere machten die ungleiche Verteilung des Reichtums in der neuen Gesellschaft dafür verantwortlich. Er legte die Zeitung weg, um seine Augen ein wenig auszuruhen, doch unwillkürlich schlief er ein.
Das hartnäckige Klingeln des Telefons weckte ihn aus seinen Träumen. Der Alte Jäger war am Apparat.
»Entschuldigen Sie, daß ich so spät noch anrufe«, sagte der Alte Jäger.
»Keineswegs, ich habe auf Ihren Anruf gewartet«, erwiderte Chen. »Ich war bei Inspektor Rohn im Hotel. Jetzt können Sie mir ausführlich berichten.«
»Also zunächst zum Schlafanzug des Opfers. Einiges wissen Sie ja bereits. Es waren keine Etiketten mehr darin, aber in den Stoff ist ein Muster eingewebt, der Buchstabe V in Verbindung mit einer kleinen Ellipse. Ich habe mit Tang Kaiyuan gesprochen, einem Modedesigner. Er sagt, dieses Logo steht für Valentino, offenbar ein internationaler Markenname. Ziemlich teures Zeug. Kein Geschäft in Shanghai verkauft so etwas. Das Opfer muß also ein reicher Mann gewesen sein, vermutlich aus einer anderen Provinz. Vielleicht sogar aus Hongkong.«
»Es könnte ja auch eine Fälschung sein, ein billiges Imitat«, schlug Chen vor.
»Daran habe ich auch gedacht. Aber Tang hält das für unwahrscheinlich. Er hat hier noch nie falsche Valentino-Schlafanzüge gesehen. Fälschungen werden immer in großen Mengen produziert. Niemand würde nur ein oder zwei Stück davon herstellen. Vergangenen Monat wurden bei einer Razzia in einem Lagerhaus dreihunderttausend billige Hemden mit falschem Polo-Logo konfisziert. Wären sie auf den Markt gekommen, dann hätte keiner mehr die teuren Original-Hemden gekauft.«
»Da hat Tang recht.«
»Außerdem habe ich mich mit Doktor Xia unterhalten, deshalb hatte ich auch keine Zeit, Sie früher zurückzurufen. Für Sie tut der Gute ja alles. Erinnern Sie sich noch an die unbekannte Substanz, die man im Körper der Leiche nachweisen konnte? Als wir darüber sprachen, daß das Opfer kurz vor dem Tod Geschlechtsverkehr hatte, kam der Doktor auf
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