Die Frau mit dem roten Herzen
offene Fenster kam, und gaben dem Raum eine elegante Note.
An der Wand hing ein langes Rollbild mit einer Gedichtzeile in archaischer Siegelschrift: Ein altes Pferd im Stall träumt noch immer / tausend mal tausend Li zu galoppieren. Das Zitat entstammte dem Gedicht »Blick auf das Meer« des Dichters Cao Cao. Vor der Mitte der achtziger Jahre waren hochrangige Kader nicht in den Ruhestand gegangen, sondern hatten ihre Posten bis zum Lebensende bekleidet. Erst seit den Reformen Deng Xiaopings mußten auch sie im entsprechenden Alter abtreten. In einigen Jahren würde Li seinen Posten abgeben müssen. Chen erkannte unter den Zeilen den roten Stempel eines bekannten Kalligraphen. Eine Schriftrolle wie diese würde bei einer internationalen Auktion ein kleines Vermögen bringen.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so spät noch störe, Parteisekretär Li«, sagte Chen.
»Das macht gar nichts. Ich bin heute abend allein. Meine Frau ist bei meinem Sohn.«
»Ihr Sohn ist ausgezogen?«
Li hatte eine Tochter und einen Sohn, beide Mitte Zwanzig. Anfang letzten Jahres hatte die Tochter dank Lis Kaderstatus vom Präsidium eine Wohnung zugeteilt bekommen. Einem hochrangigen Kader stand mehr Wohnraum zu, da er dort im Dienste der sozialistischen Gesellschaft tätig war. Die Leute beschwerten sich insgeheim über diese Regelung, doch niemand wagte, das Thema bei den Sitzungen des Wohnungskomitees anzusprechen. Erstaunlich war allerdings, daß nun auch Lis Sohn, der gerade mal sein Studium abgeschlossen hatte, eine eigene Wohnung bekommen hatte.
»Ja, letzten Monat. Meine Frau ist heute bei ihm, um sein neues Zuhause wohnlich zu gestalten.«
»Herzlichen Glückwunsch, Parteisekretär Li. Das ist ein Grund zum Feiern.«
»Nun, sein Onkel hat eine Anzahlung für ein kleines Appartement gemacht und ihn dort einziehen lassen«, erklärte Li. »Die Wirtschaftsreformen haben viele Veränderungen für unsere Stadt gebracht.«
»Allerdings«, erwiderte Chen. Das also waren die Ergebnisse der Reformen auf dem Wohnungssektor. Die Regierung ermunterte die Leute, zusätzlich zu den Zuteilungen ihrer Arbeitseinheit eigenen Wohnraum zu erwerben. Doch wer außer den wenigen Neureichen konnte sich das leisten? »Dann muß sein Onkel ja gute Geschäfte machen.«
»Er betreibt eine kleine Bar.«
Chen erinnerte sich an das, was der Alte Jäger ihm über Lis unberührbaren Schwager erzählt hatte. Derartige Senkrechtstarter verdankten ihren Erfolg nicht dem eigenen Geschäftssinn sondern allein ihren guanxi.
»Tee oder Kaffee?« fragte Li lächelnd.
»Kaffee bitte.«
»Leider habe ich nur löslichen Kaffee.«
Dann berichtete Chen seinem Vorgesetzten über die Lebensmittelvergiftung in Fujian.
»Seien Sie nicht zu mißtrauisch«, lautete Lis Antwort. »Einige unserer Kollegen in Fujian dürften nicht gerade begeistert gewesen sein über Hauptwachtmeister Yus Erscheinen. Schließlich ist das ihr Territorium; man kann das verstehen. Aber wir würden sicherlich zu weit gehen, wenn wir ihnen eine Zusammenarbeit mit der Bande unterstellen wollten. Dafür haben Sie keinerlei Beweise, Oberinspektor Chen.«
»Ich sage ja nicht, daß sie alle mit den Triaden unter einer Decke stecken; ein Maulwurf genügt, um jede Menge Schaden anzurichten.«
»Ruhen Sie sich erst mal richtig aus, Genosse. Sie und Ihr Kollege Yu sind völlig überarbeitet. Sie müssen nicht meinen, in den Bagong-Bergen zu kämpfen, wo jeder Baum und Strauch ein feindlicher Soldat ist.«
Damit spielte Li auf eine Schlacht während der Jin-Dynastie an, als die Phantasie eines panischen Generals überall feindliche Soldaten vermutete, die ihn in die Berge treiben wollten. Chen seinerseits vermutete, daß Li es war, der den Feind falsch einschätzte. Hier blieb keine Zeit zum Ausruhen. Er meinte, bei Li eine veränderte Einstellung gegenüber den laufenden Ermittlungen wahrzunehmen, und fragte sich, ob er in den Augen seines Vorgesetzten zu weit gegangen war.
Chen brachte das Gespräch auf Inspektor Rohn, der offenbar Lis Hauptaugenmerk galt.
»Die Amerikaner verfolgen die Ermittlungen im Sinne eigener Interessen«, kommentierte Li. »Selbstverständlich muß Inspektor Rohn kooperieren. Solange die da drüben überzeugt sind, daß wir unser Bestes tun, ist alles in Ordnung. Mehr ist nicht nötig.«
»Mehr ist nicht nötig«, wiederholte Chen.
»Natürlich werden wir alles tun, um Wen zu finden, aber es dürfte nicht leicht sein, das innerhalb der gesetzten Frist zu schaffen –
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