Die Frau mit dem roten Herzen
in Ungnade gefallene Rotgardist, stimmt’s?« Unweigerlich meldete sich ihr Mißtrauen. Vermutlich war das alles reine Zeitverschwendung.
»Genau. An die erste Liebe erinnert man sich sein Leben lang. Vielleicht weiß Su etwas.«
»Und was passiert nach unserem Besuch bei ihm? Soll ich dann etwa weiterhin wie ein Staatsgast im Hotel sitzen, einkaufen gehen und mit Ihnen in diesen hervorragenden Restaurants essen?«
»Ich werde Parteisekretär Li dazu befragen.«
»Eine weitere klare Antwort?«
»Zum Wohl.« Er hob ihr seine Teeschale entgegen.
»Zum Wohl«, entgegnete Catherine und hob ebenfalls ihre Schale. Die winzigen Trockenfrüchte, chinesischer Rotdorn, stiegen wie scharlachrote Punkte an die Oberfläche. Sie konnte wenig ausrichten gegen diesen chinesischen Kollegen, der ihrem Sarkasmus mit Unschuldsmiene begegnete. Dennoch fand sie es erheiternd, sich mit Tee zuzuprosten.
In einem brodelnden Tontopf wurde der nächste Gang serviert. Die Gerichte hier sahen völlig anders aus als in den Spezialitätenrestaurants von Chinatown. Die cremige Soße schmeckte wie Hühnerbouillon, aber das Fleisch stammte ganz offensichtlich nicht vom Huhn. Es hatte eine dichtere, gallertartige Konsistenz.
»Was ist das?«
»Wasserschildkröte.«
»Wie gut, daß ich nicht vorher gefragt habe.« Sie meinte, einen Funken Heiterkeit in seinem Blick zu erkennen. »Schmeckt nicht schlecht.«
»Nicht schlecht? Das ist das teuerste Gericht auf der Karte.«
»Gilt Schildkröte in China nicht als sagenumwobenes Aphrodisiakum?«
»Das kommt darauf an.« Chen schöpfte sich eine reichliche Portion in seine Schale.
»Aber Oberinspektor Chen!« rief sie mit gespieltem Entsetzen.
»Unsere Tagesspezialität.« Der Kellner war mit einer weißen Schüssel zurückgekehrt, in der schneckenähnliche Tiere in bräunlicher Brühe schwammen. Außerdem stellte er eine Schüssel mit Wasser auf den Tisch. Chen tunkte die Finger in die Wasserschale, wischte sie an seiner Serviette ab und fischte dann nach einem der Krustentiere. Sie sah zu, wie er umständlich das Fleisch aus der Schale saugte.
»Die sind köstlich«, sagte er. »Süßwasser-Spiralmuscheln. Oft fälschlicherweise als Süßwasserschnecken bezeichnet. Aber man ißt sie wie Schnecken.«
»Ich habe noch nie Schnecken gegessen.«
»Wirklich!« Er nahm einen Zahnstocher aus Bambus, spießte das Fleisch damit auf und reichte es ihr herüber.
Sie hätte wohl ablehnen sollen, doch statt dessen beugte sie sich über den Tisch und ließ sich das Fleisch von ihm in den Mund stecken. Es schmeckte gut, aber die Geste irritierte sie.
Dieser chinesische Bulle wurde langsam zur Herausforderung. Offenbar hielt er sich für einen Frauenheld.
»Noch besser schmeckt es, wenn Sie das Fleisch selbst heraussaugen«, sagte er.
Das tat sie. Und tatsächlich, wenn man das Fleisch zusammen mit der Soße einsog, war es noch aromatischer.
Als die Rechnung kam, wollte sie bezahlen, wenigstens die Hälfte der Summe, doch er wehrte ab. »Die Shanghaier Polizei kann mich doch nicht ständig freihalten«, protestierte sie.
»Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen«, sagte er und zerknüllte die Rechnung. »Darf ich meiner attraktiven amerikanischen Partnerin nicht mal ein Mittagessen spendieren?«
Derartige Komplimente schienen ihm leicht über die Lippen zu kommen. Vielleicht hatte das etwas mit der chinesischen Kultur zu tun. Oder er hatte entsprechende Anweisungen.
Er war gerade dabei, ihren Stuhl zurückzuschieben, als sein Handy klingelte. Er schaltete es an, und seine Gesicht nahm beim Hören einen ernsten Ausdruck an. Am Ende des Gesprächs sagte er: »Ich fahre hin.«
»Was ist passiert?«
»Wir müssen unsere Pläne ändern«, sagte er. »Qian Jun hat aus dem Präsidium angerufen. Es gab eine Reaktion auf unsere Suchmeldung. Eine Schwangere vom Land arbeitet angeblich in einem Restaurant im Bezirk Qingpu, außerhalb von Shanghai. Offenbar stammt sie aus dem Süden, denn sie spricht mit stark südchinesischem Akzent.«
»Könnte das Wen sein?«
»Falls sie in einen Zug nach Shanghai gestiegen ist, hat sie vielleicht unterwegs beschlossen, ein oder zwei Haltestellen vorher auszusteigen. Vielleicht wollte sie ihren Verwandten nicht zur Last fallen. Deshalb hat sie sich eine Arbeit gesucht und sich dort in einem Gasthof eingemietet.«
»Klingt einleuchtend.«
»Ich werde nach Qingpu fahren«, sagte Chen. »Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Viele Menschen strömen nach Shanghai, um
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