Die Frau mit dem roten Herzen
dem Bibliotheksgebäude trat, sah sie Chen vor dem Restaurant warten. Mit seinem schwarzen Blazer und der Khaki-Hose wirkte er nicht ganz so akademisch wie auf dem Zeitschriftenfoto. Er kam ihr über die Straße entgegen, traf sie auf der Verkehrsinsel und geleitete sie in das Restaurant. Dort führte eine Bedienung sie zu einem Separee im ersten Stock.
Sie studierte die zweisprachige Speisekarte, reichte sie aber nach wenigen Zeilen an ihn weiter. Obwohl sie alle Schriftzeichen kannte, blieb ihr die Bedeutung der blumigen Ausdrücke verborgen; da half auch die englische Übersetzung nicht.
Ein Kellner kam mit einer langschnabeligen Kupferkanne und goß in graziösem Bogen Wasser in ihre Teeschalen. Zwischen den grünen Teeblättern schwammen Stückchen von gelben und roten Kräutern am Boden der Schalen.
»Das ist Acht-Kostbarkeiten-Tee«, erklärte Chen. »Er stärkt das qi.«
Sie hörte amüsiert zu, wie er mit dem Kellner die Spezialitäten des Hauses besprach. Zwischendurch holte er ihre Zustimmung ein. Ein perfekter Fremdenführer, dieser Vorzeigebeamte der Shanghaier Polizei.
»Der Name des Restaurants stammt aus einem songzeitlichen Gedicht. Dort heißt es: Es liegt ein Haus inmitten grüner Weiden. Wie der Dichter heißt, habe ich vergessen.«
»Hauptsache Sie kennen den Namen des Restaurants.«
»Ja, das ist viel wichtiger. Wie schon Konfuzius sagt: ›Bei der Auswahl seiner Speisen kann man nicht wählerisch genug sein.‹ Das ist die erste Lektion, die ein Sinologe lernen sollte.«
»Sie sind hier offenbar Stammgast«, bemerkte sie.
»Ich bin zwei- oder dreimal hiergewesen.« Er bestellte Schwalbennestersuppe vom südchinesischen Meer, gebratene Austern mit Rührei, Ente mit Klebreisfüllung, lebend gedämpften Fisch mit jungem Ingwer, Frühlingszwiebeln und Peperoni und eine exotisch klingende Spezialität, deren Namen sie nicht verstand.
Nachdem der Kellner sich zurückgezogen hatte, ließ sie den Blick auf ihrem Gegenüber ruhen. »Ich frage mich …«
»Ja?«
»Ach nichts.« Einige kalte Vorspeisen wurden an den Tisch gebracht, was ihr eine Entschuldigung für den Rückzieher gab. Sie hätte gerne gewußt, wie er sich dieses kulinarische Wissen angeeignet hatte. Ein gewöhnlicher chinesischer Oberinspektor würde sich das nicht leisten können. Sie merkte, daß sie die Anweisungen der CIA bereits verinnerlicht hatte, doch das beeinträchtigte keineswegs ihren Appetit.
»Ich frage mich«, begann sie von neuem, »ob unsere Interviews etwas bringen. Wen scheint sich völlig von ihrer Vergangenheit zu distanzieren. Ich sehe nicht, wie sie nach all den Jahren wieder in Shanghai Fuß fassen könnte.«
»Wir haben ja eben erst begonnen. Mittlerweile hat Qian, mein zeitweiliger Assistent, Hotels und Nachbarschaftskomitees überprüft.« Chen griff mit seinen Stäbchen nach einem Stück Hühnerfleisch. »Vielleicht wissen wir bald mehr.«
»Glauben Sie denn, Wen könnte sich ein Hotel leisten?«
»Nein. Da muß ich Ihnen recht geben, Inspektor Rohn. Feng hat noch kein Geld nach Hause geschickt, und seine Frau hat noch nicht einmal ein Bankkonto. Daher habe ich dem Alten Jäger aufgetragen, sich bei den unlizenzierten Billighotels umzusehen.«
»Ist der Alte Jäger nicht mit einem anderen Fall beschäftigt?«
»Ja, aber ich habe ihn auch in dieser Sache um Unterstützung gebeten.«
»Gibt es wenigstens in dem anderen Fall Fortschritte?«
»Leider auch nicht. Da geht es um eine Leiche, die im Park gefunden wurde. Der Alte Jäger konnte immerhin das Logo auf dem Schlafanzug des Mannes identifizieren, ein eingewebtes V.«
»Hmm, Valentino«, sagte sie prompt. »In unserem Fall gibt es noch etwas, das mich beunruhigt. Bislang hat Wen offenbar nicht versucht, mit ihrem Mann Verbindung aufzunehmen. Das will mir nicht einleuchten. Feng hat sie nur aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen, nicht aber, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Sie kennt doch den Verhandlungstermin, also hätte sie sich, wenn sie ihn nicht erreichen kann, bei der Polizei gemeldet. Mit jedem Tag wird die Chance kleiner, daß sie noch vor der Verhandlung mit Feng zusammentrifft. Inzwischen ist es sieben Tage her, daß sie verschwunden ist.«
»Da haben Sie recht. Die Sache ist wohl doch komplizierter, als wir zunächst angenommen haben.«
»Was können wir dann hier noch ausrichten?«
»Heute nachmittag befragen wir einen weiteren Klassenkameraden von ihr, Su Shenyu.«
»Dieser heimliche Verehrer aus der Oberschule? Der
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