Die Frau mit dem roten Herzen
gegenüber.
»Ich weiß einen Platz, an dem die Aussicht noch besser ist«, sagte er und deutete mit der Hand.
»Sie sind der Führer.«
Er geleitete sie über eine eiserne Wendeltreppe auf eine große Terrasse aus Zedernholz, die sich über dem Wasser erhob. Sie setzten sich an einen der weißgedeckten Tische; er bestellte Kaffee und für sie eine Flasche Orangensaft. Die Aussicht war atemberaubend.
Sie befanden sich unweit der Ecke, wo er vor kurzem den Tatort inspiziert hatte. Am selben Tag war ihm der Fall Wen übertragen worden. Von seinem Platz aus konnte er diesen Teil des Parks überblicken; das dichte Buschwerk schien sich in der launigen Brise zu bewegen. Das war sonderbar, denn die Blätter der anderen Bäume rührten sich nicht. Er sah noch einmal genauer hin. Noch immer schienen die Büsche auf unheimliche Weise lebendig.
Er nahm einen Schluck Kaffee und wandte sich Catherine zu. Die Kerze, die in einer Schale auf dem Tisch brannte, tauchte ihr Gesicht in gelbliches Licht.
»Heute abend sehen Sie aus wie eine schicke Shanghaierin. Kein Mensch würde Sie für einen U.S. Marshai halten.«
»Ist das ein Kompliment?«
»Bestimmt haben schon viele Leute gefragt, warum Sie diesen Beruf gewählt haben.«
»Und bei den wenigsten habe ich mir die Mühe einer Antwort gemacht«, sagte sie nachdenklich. »Dabei ist es ganz einfach. Ich habe keine andere Stelle gefunden, bei der ich mein Chinesisch hätte gebrauchen können.«
»Das überrascht mich. Hier gibt es doch so viele amerikanische Joint Ventures. Ihre Sprachkenntnisse könnten solchen Firmen von großem Nutzen sein.«
»Viele Firmen schicken ihre Leute nach China, aber die müssen Erfahrung im Geschäftsleben haben. Und dann ist es billiger für sie, chinesische Dolmetscher zu engagieren. Eine Mini-Brauerei hat mir eine Stelle als Bar-Managerin angeboten. Eine Amerikanerin, die in spezieller Dienstkleidung ihre chinesischen Kunden bedient – ein ärmelloses, rückenfreies Oberteil, dazu Hot pants.«
»Und daraufhin haben Sie sich beim Marshals Service beworben?«
»Ich habe einen Onkel, der bei den Marshals arbeitet. Sie würden das wohl guanxi nennen. Er hat mich da reingebracht. Natürlich mußte ich noch Ausbildungsseminare besuchen.«
»Wie sind Sie Inspektor geworden?«
»Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich befördert wurde. In unserer Dienststelle in St. Louis gibt es genug zu tun, aber ich werde gelegentlich auch nach New York ausgeliehen, wenn es dort Fälle gibt, die mit China zu tun haben. Vom ersten Tag an hat mein Chef mir versprochen, ich würde Gelegenheit bekommen, nach China zu fahren. Und nun bin ich endlich da.«
»Auch die Chinesen haben ihre Vorstellung von amerikanischen Polizistinnen; zum Beispiel Lily McCall aus Hunter. Das war eine der wenigen amerikanischen Fernsehserien, die bei uns Anfang der achtziger Jahre lief. Die Fahnderin McCall war ein Publikumsliebling. Ich habe damals im Schaufenster des Kaufhauses Nummer Eins sogar ein ärmelloses Schlafanzugoberteil aus Seide gesehen, das als McCall-Top angepriesen wurde. In einer der Folgen hat die Detektivin diese verführerische Nachtwäsche getragen.«
»Was Sie nicht sagen! Eine amerikanische Polizistin, die die chinesische Mode inspiriert?«
»In einer anderen Folge hat McCall beschlossen, zu heiraten und ihren Job an den Nagel zu hängen. Einige chinesische Fans waren darüber so enttäuscht, daß sie Leserbriefe an die Zeitungen schrieben, man könne doch Polizistin und gute Ehefrau zugleich sein. Andere wiederum hielten das für unmöglich; sie sahen darin einen unauflöslichen Widerspruch.«
Sie stellte ihr Glas ab. »Vielleicht sind Chinesen und Amerikaner doch nicht so verschieden.«
»Was meinen Sie damit, Inspektor Rohn.«
»Als Polizistin ist es nicht leicht, eine Beziehung zu einem Mann aufrechtzuerhalten, es sei denn, er ist ebenfalls Polizist. Frauen geben diesen Beruf deshalb häufig wieder auf. Und wie sehen Sie das?«
»Ich?«
»Ja, Sie. Wir haben jetzt lange genug von meiner Laufbahn geredet. Jetzt müssen Sie mir fairerweise auch von der Ihren erzählen, Oberinspektor Chen.«
»Ich habe einen Universitätsabschluß in Englischer und Amerikanischer Literatur«, begann er zögernd. »Einen Monat vor den Abschlußprüfungen wurde mir mitgeteilt, das Auswärtige Amt hätte meine Akte angefordert. Anfang der achtziger Jahre lag die Stellenvergabe für Universitätsabgänger noch beim Staat. Die Diplomatenlaufbahn war ein Traumjob für einen
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