Die Frau mit dem roten Herzen
jetzt zählte, waren Hinweise auf Wens Aufenthaltsort, und die hatte sie nicht.
Das Klingeln ihres Telefons schreckte sie aus ihren Gedanken. Es war Chen, und sie hörte Verkehrsgeräusche im Hintergrund.
»Oberinspektor Chen, wo sind Sie?«
»Auf dem Weg nach Hause. Gerade hat mich Parteisekretär Li angerufen. Er möchte Sie heute abend in die Peking-Oper einladen.«
»Will er mit mir den Fall Wen besprechen?«
»Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls soll diese Einladung bekunden, welche Bedeutung das Präsidium dem Fall und Ihnen, unserem verehrten amerikanischen Gast, beimißt.«
»Wurde das nicht schon dadurch bekundet, daß man Sie mit den Ermittlungen betraut hat?«
»Tja, eine Einladung von Parteisekretär Li gibt eben mehr Gesicht.«
»Gesicht geben? Ich hatte bislang nur von Gesichtsverlust gehört.«
»Wer in der entsprechenden Position ist, kann einem anderen durch eine freundliche Geste Gesicht geben.«
»Verstehe. So ähnlich wie Ihr Besuch bei Gu. Dann kann ich also nicht nein sagen?«
»Wenn Sie das täten, würde Parteisekretär Li an Gesicht verlieren und mit ihm das gesamte Präsidium – ich inbegriffen.«
»Oh nein! Ihr Gesicht muß unbedingt gewahrt bleiben.« Sie lachte. »Was trägt man in der Peking-Oper?«
»Peking-Oper ist nicht wie westliche Oper. Man muß sich nicht in Schale werfen, aber wenn Sie es tun wollen …«
»Dann gebe ich meinen Begleitern Gesicht.«
»Genau. Soll ich Sie im Hotel abholen?«
»Wo ist denn das Theater?«
»Nicht weit von Ihnen. An der Kreuzung Fuzhou und Henan Lu. In der Halle des Stadtparlaments.«
»Dann müssen Sie nicht extra herkommen. Ich nehme ein Taxi. Bis gleich.«
»Ach übrigens, ich habe Parteisekretär Li gegenüber unseren nachmittäglichen Besuch nicht erwähnt.«
Seine letzte Bemerkung verstand sie als explizite Warnung.
Sie begann sich umzuziehen und griff nach ihrem Hosenanzug. Doch nach so einem ereignisreichen Tag, und besonders nach der Auseinandersetzung in Qingpu, sollte sie vielleicht etwas femininer auftreten. Sie entschied sich für das kleine Schwarze mit dem tiefen Ausschnitt.
Vor der Halle des Stadtparlaments registrierte sie das Erstaunen auf Chens Gesicht, noch bevor sie den Mann bemerkte, der neben ihm stand. Es war Parteisekretär Li, ein untersetzter Mann Anfang Sechzig, dessen faltiges Gesicht von mächtigen Tränensäcken dominiert wurde.
Man führte sie in einen eleganten Empfangsraum, dessen Wände mit Fotos von Parteifunktionären bedeckt waren, die ausländischen Ehrengästen oder Schauspielern und Schauspielerinnen die Hände schüttelten.
»Ich heiße Sie im Namen des Shanghaier Polizeipräsidiums ganz herzlich willkommen, Inspektor Rohn.« Trotz seines Lächelns war Lis Ton förmlich und steif.
»Vielen Dank, Herr Parteisekretär Li. Es ist mir eine große Ehre, Sie heute kennenzulernen.«
»Es ist das erste Mal, daß unsere beiden Länder in einem Fall illegaler Einwanderung zusammenarbeiten. Die Ermittlungen haben daher höchste Priorität für unsere Dienststelle, ebenso wie für die Partei und die Regierung.«
»Ich schätze die Kooperationsbereitschaft des Shanghaier Präsidiums, leider gibt es bislang kaum Ergebnisse.«
»Keine Sorge, Inspektor Rohn. Wie tun unser Bestes, sowohl hier wie in Fujian. Sie werden Wen Liping rechtzeitig in die Vereinigten Staaten begleiten können.« Dann wechselte Li unvermittelt das Thema. »Wie ich gehört habe, ist dies Ihr erster Besuch in Shanghai. Welchen Eindruck haben Sie von unserer Stadt?«
»Shanghai ist phantastisch, noch großartiger, als ich es mir vorgestellt hatte.«
»Und wie ist das Hotel?«
»Bestens. Oberinspektor Chen hat das Hotelpersonal angewiesen, mich wie einen Ehrengast zu behandeln.«
»Das ist auch recht so.« Li nickte bestätigend. »Und was halten Sie von Ihrem chinesischen Partner?«
»Ich hätte mir keinen besseren wünschen können.«
»Ja, er ist unser bestes Pferd im Stall. Und dazu noch ein romantischer Dichter. Deshalb haben wir ihn mit dieser Aufgabe betraut.«
»Sie nennen ihn einen romantischen Dichter«, erwiderte sie scherzhaft. »Er selbst bezeichnet sich als Modernisten.«
»Da haben Sie’s«, sagte Li an Chen gewandt. »Modernismus taugt nichts. Inspektor Rohn findet das auch. Halten Sie sich lieber an die Romantik, Ober in spektor Chen, an die revolutionäre Romantik.«
»Romantik, revolutionäre Romantik«, wiederholte Chen. »Der Vorsitzende Mao hat diese Begriffe 1944 beim Yan’an-Forum
Weitere Kostenlose Bücher