Die Frau mit dem roten Herzen
Weile hier stehen.« Dann fügte sie schmunzelnd hinzu: »Wie eine Schnecke an der Mauer, um Ihr Bild zu gebrauchen.«
»Was immer unser Ehrengast wünscht«, erwiderte Chen. »Vielleicht eher wie ein Stein in der Mauer. Ein Stein in einer sozialistischen Mauer. Diese Metapher erfreute sich während der sozialistischen Erziehungsbewegung großer Beliebtheit.«
Sie standen nebeneinander an das Geländer gelehnt. Zu ihrer Linken funkelte der Park wie eine »die Nacht erhellende Perle«; diesen Ausdruck hatte sie in einer chinesischen Legende gelesen.
»Wie finden Sie bei Ihrem derzeitigen Job noch Zeit für literarische Interessen«, erkundigte sie sich.
»Von der Politik einmal abgesehen, mag ich meine Arbeit, und in gewisser Weise ist sie meinem Schreiben sogar förderlich. Sie vermittelt mir einen anderen Blickwinkel.«
»Welchen Blickwinkel?«
»Während meines Studiums schien mir das Schreiben eines Gedichts unendlich bedeutungsvoll; keine andere Tätigkeit hatte einen solchen Stellenwert für mich. Jetzt habe ich da meine Zweifel. In der Übergangsphase, in der sich China derzeit befindet, gibt es so viele Dinge, die den Leuten wichtiger sind oder zumindest eine unmittelbar praktische Bedeutung für sie haben.«
»Das klingt aber eher defensiv, so, als wollten Sie sich selbst davon überzeugen.«
»Da mögen Sie recht haben«, sagte er. Er zog einen weißen Papierfächer aus der Tasche. »Ich habe mich seither ziemlich verändert.«
»Sie haben sich in einen Oberinspektor verwandelt, den aufsteigenden Stern des Präsidiums, wie mir scheint.« Sie bemerkte, daß elegante Kalligraphie den Fächer zierte. »Darf ich mal sehen?«
»Natürlich.«
Sie nahm den Fächer, auf dem ein Zweizeiler stand. In der unsteten Beleuchtung der blinkenden Neonlichter war die Schrift schwer zu lesen:
Trunken peitsche ich das edle Pferd; / will die Schöne nicht durch Leidenschaft erdrücken.
»Sind diese Zeilen von Ihnen, Oberinspektor Chen?«
»Nein, sie stammen von Daifu, einem chinesischen Dichter der Bekenner-Schule, vergleichbar mit Robert Lowell.«
»Warum diese Parallele zwischen dem Pferd und der Schönen?«
»Ein Freund von mir hat die Zeilen für mich geschrieben.«
»Wieso gerade diese?« Sie fächelte sich mit dem Fächer zu.
»Vielleicht ist es sein Lieblingsgedicht.«
»Oder eine Botschaft an Sie.«
Er lachte.
Das Klingeln seines Mobiltelefons schreckte sie auf.
»Was gibt’s, Onkel Yu?« sagte er und schirmte den Apparat mit einer Hand ab. Dann nahm er sie am Ellenbogen und ging langsam mit ihr die Straße entlang, während er zuhörte.
Sie verstand sofort, warum er den Spaziergang fortsetzen wollte. Ein vertrauliches Gespräch war in dem Gedränge an der Mauer nicht denkbar, außerdem waren Handys hier kaum verbreitet und erregten entsprechendes Aufsehen. Begehrliche Blicke aus der Menge trafen sie.
Seine Miene veränderte sich nicht, während er telefonierte. Er selbst sagte kaum etwas. »Danke, das war ein sehr wichtiger Hinweis, Onkel Yu«, beendete er das Gespräch.
»Was ist los?« wollte sie wissen.
»Das war der Alte Jäger. Wegen Gu«, sagte er und schaltete das Telefon aus. »Ich hatte ihn gebeten, den Besitzer des Karaoke-Clubs im Auge zu behalten. Außerdem hat er Gus Telefonleitungen angezapft. Offenbar ist Gu ein Ehrenmitglied der Blauen. Nachdem wir das Dynasty verlassen haben, hat er mehrere Anrufe getätigt. In einigen ging es um einen vermißten Mann aus Fujian. Gu verwendete seinen Spitznamen.«
»Einen Mann aus Fujian?« wiederholte sie. »Und Wen hat er nicht erwähnt?«
»Nein. Der Mann aus Fujian schien einen Auftrag zu haben, aber sie haben sich in der Geheimsprache der Triaden unterhalten. Der Alte Jäger wird heute abend noch ein bißchen recherchieren.«
»Gu wußte etwas, das er uns verschwiegen hat«, sagte sie.
»Aber Gu hat doch von einem Besucher aus Hongkong gesprochen, nicht aus Fujian. Warum also erkundigt er sich nach einem Vermißten aus Fujian …«
Zum ersten Mal redeten sie wie Kollegen miteinander, ohne Worte oder Gedanken vor dem anderen zurückzuhalten. Ein weißhaariger Straßenhändler trat auf sie zu und bot etwas auf der ausgestreckten Handfläche feil.
»Ein Erbstück. Das bringt jungen Paaren Glück, glauben Sie mir. Ich bin siebzig Jahre alt. Der Staatsbetrieb, in dem ich gearbeitet habe, hat vergangenen Monat Pleite gemacht. Von meiner Pension sehe ich jetzt keinen Fen mehr, andernfalls würde ich das hier nie verkaufen.«
Es war ein
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