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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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gebraucht.«
    Sie merkte bald, daß Parteisekretär Li in literarischen Fragen nicht sonderlich bewandert war. Chen aber schien unbekümmert, ja geradezu lässig mit seinem Chef umzugehen. Lag das an seinen guten Beziehungen innerhalb des Parteiapparats?
    Man brachte sie auf ihre reservierten Plätze; sie saß zwischen Li und Chen. Die Lichter gingen aus. Ein Orchester mit traditionellen chinesischen Instrumenten begann zu spielen, sofort brach das Publikum in Beifallrufe aus.
    »Warum applaudieren die Leute schon jetzt?« fragte Catherine.
    »Die Peking-Oper ist eine sehr facettenreiche Kunst«, erläuterte Chen. »Gesang, feststehende Posen, Kampfkunst und Orchesterbegleitung ergänzen einander. Wenn einer sein Instrument meisterlich beherrscht, zum Beispiel die zweisaitige erhu, so wird das vom Publikum honoriert. Sie applaudieren den Instrumentalisten.«
    »Nein, nicht deshalb klatschen sie«, mischte Li sich ein. »Unser Oberinspektor weiß zwar viel über Literatur, aber in der Peking-Oper kennt er sich nicht aus. Gleich wird eine bekannte Schauspielerin auf die Bühne kommen. Man gibt ihr einen Empfangsapplaus. Das ist so üblich.«
    »Ja, unser Parteisekretär ist Fachmann für Peking-Oper«, sagte Chen. »Meine spärlichen Kenntnisse stammen aus einem Touristenführer.«
    Nachdem der Vorhang sich gehoben hatte, führten Zymbeln in den Singsang der Schauspieler und Schauspielerinnen ein, und die romantische Geschichte von der Weißen Schlange entfaltete sich auf der Bühne. Sie handelte von einem weißen Schlangengeist, der sich in ein verliebtes, schönes Mädchen verwandelt. Die Weiße Schlange mobilisiert die Schildkrötentruppe, die Krabbensoldaten und die Karpfenritter, um den Tempel zu erobern und ihren Geliebten zu befreien, der dort von einem boshaften Mönch gefangengehalten wird. Trotz dieses heroischen Aufgebots bleibt ihr Kampf gegen den Tempel vom Goldenen Berg erfolglos.
    Catherine genoß die Aufführung mit ihren spektakulären Kampfkunst-Einlagen, glitzernden Kostümen und der traditionellen Musik. Man mußte nicht ein einziges Wort des Textes verstehen, um seine Freude daran zu haben. Dann machte die Weiße Schlange eine Serie gewagter Flickflacks quer über die ganze Bühne. »Dies ist ein Ausdruck für den inneren und äußeren Kampf«, erklärte Chen. »Die Banner in ihrer Hand symbolisieren das heftige Gefecht. Ihre Handhaltungen und Körperbewegungen unterstreichen den Fortgang der Handlung.«
    Der Vorhang fiel zum tosenden Applaus des Publikums.
    Anschließend bot Parteisekretär Li an, Inspektor Rohn mit seinem Wagen ins Hotel zurückzubringen, doch sie lehnte ab. Sie wolle lieber am Bund entlang zurückspazieren, sagte sie.
    »Sie kennen sich ja schon gut aus in unserer Stadt.« Und an Chen gewandt, sagte er. »Oberinspektor Chen, sie sollten Inspektor Rohn begleiten.«
     

17
     
    D ER B UND ZOG sich den Fluß entlang wie ein ausgerollter Schal.
    Catherine war noch immer ganz erfüllt von der Peking-Oper. »Und was ist die Moral von der Geschichte?«
    »Die ist zweideutig«, erwiderte Chen. »Aus orthodoxer Sicht ist eine Liebesbeziehung zwischen einem Tiergeist und einem Menschenwesen verboten. Im alten China, wo die meisten Ehen durch Heiratsvermittlung geschlossen wurden, war jegliche voreheliche Leidenschaft untersagt. Dennoch ist diese Liebesgeschichte beim Publikum immer sehr beliebt gewesen.«
    Sie nickte. »Dann ist die Weiße Schlange also eine Metapher. Man muß ja auch nicht an Geister glauben, um Hamlet schätzen zu können.«
    »Nein, und Liebesgeschichten gibt es nicht nur zwischen Tiergeistern und Menschen. Sehen Sie sich die Liebespaare hier am Bund an. Stundenlang stehen sie dort, als hätten sie Wurzeln geschlagen. In meiner produktiven modernistischen Phase habe ich noch ein anderes Bild dafür gefunden. Ich habe diese Liebenden mit Schnecken verglichen, die an der Kaimauer kleben. Aber dieses Gedicht ist nie veröffentlicht worden.« Dann wechselte er das Thema. »Meine alte Oberschule war hier ganz in der Nähe, an der Kreuzung Sichuan und Yan’an Lu. Als Schüler bin ich oft den Bund entlanggegangen.«
    »Der Bund scheint einer Ihrer Lieblingsplätze zu sein.«
    »Stimmt. Auch zum Präsidium ist es nicht weit. Vor oder nach der Arbeit komme ich gern hierher.«
    Am Bund-Park hielten sie kurz an. Das Wasser schwappte gegen die Kaimauer. Sie betrachteten den Reflex des Mondlichts auf den Wellen, die Möwen, die um die Schiffe kreisten, und das erleuchtete Ufer

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