Die Frau mit dem roten Herzen
Anhänger aus grüner Jade in Form eines quin. Das kleine Fabeltier hing an einer roten Seidenschnur.
»In der chinesischen Kultur bringt Jade ihrem Träger Glück, nicht wahr?« fragte sie.
»Ja, das habe ich auch gehört. Ihm scheint sie allerdings kein Glück gebracht zu haben.«
»Diese rote Seidenschnur ist hübsch.«
Im Mondlicht schimmerte die Jade tiefgrün auf ihrer weißen Handfläche.
»Wie teuer?« fragte Chen den Händler.
»Fünfhundert Yuan.«
»Das ist ja gar nicht so viel«, flüsterte sie ihm englisch ins Ohr.
»Fünfzig Yuan.« Chen nahm ihr den Anhänger aus der Hand und gab ihn dem Händler zurück.
»Nun kommen Sie schon, junger Mann. Für eine hübsche amerikanische Freundin sollte einem nichts zu teuer sein.«
»Dann lassen wir’s eben«, sagte Chen, nahm Catherine bei der Hand und wandte sich zum Gehen. »Sieht sowieso mehr nach Plastik aus.«
»Schauen Sie mal genauer hin, junger Mann«, belehrte ihn der Händler indigniert. »Fühlen Sie die Käl te des Steins. Man merkt den Unterschied sofort.«
»Also gut, achtzig.«
»Einhundertfünfzig. Ich kann Ihnen eine Quittung über fünfhundert von einem staatseigenen Laden geben.«
»Einhundert, vergessen Sie die Quittung.«
»Einverstanden!«
Er reichte dem Händler die Banknoten.
Sie war dem Handel mit Interesse gefolgt. »Beginne mit einem himmelhohen Preis und handle ihn auf die Erde hinunter« war ein anderes Sprichwort, an das sie sich erinnerte. In dieser zunehmend materialistischen Gesellschaft wurde überall gefeilscht.
»Ich muß Sie immer wieder bewundern, Oberinspektor Chen«, sagte sie, als der Alte mit dem Geld in der Hand davongeschlurft war. »Sie haben gefeilscht wie ein, ein … jedenfalls nicht wie ein romantischer Dichter.«
»Ich glaube nicht, daß es Plastik ist«, sagte er. »Aber vielleicht irgendein wertloser, harter Stein.«
»Jade. Da bin ich mir sicher.«
»Hier, für Sie.« Er legte den Anhänger in ihre Hand und sagte, die Stimme des Alten imitierend: »Für eine hübsche amerikanische Freundin.«
»Ganz herzlichen Dank.«
Sie gingen weiter durch die kühle Abendluft.
Das Hotel Peace kam schneller als erwartet in Sicht. Am Eingang wandte sie sich ihm zu. »Darf ich Sie auf ein Glas ins Hotel einladen?«
»Danke, aber ich kann nicht mitkommen. Ich muß Hauptwachtmeister Yu anrufen.«
»Es war ein wunderschöner Abend, nochmals herzlichen Dank.«
»Das Vergnügen war ganz meinerseits.«
Sie zog den Jadeanhänger aus der Tasche. »Würden Sie ihn mir bitte umlegen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um.
Sie standen mitten im Hoteleingang, der rotbefrackte Türsteher lächelte respektvoll wie immer.
Sie konnte seinen Atem auf den feinen Härchen an ihrem Hals spüren, als seine Finger ihr die rote Seidenkordel überstreiften und einen Augenblick lang an ihrem Nacken verharrten.
19
C HEN ERWACHTE am frühen Morgen mit einer Andeutung von Kopfschmerz. Er rieb sich die Augen und überflog in der Zeitung vom Vorabend die Ergebnisse des letzten Go-Turniers zwischen China und Japan. Dieses eskapistische Vergnügen hatte er sich nun schon mehrere Tage lang versagt.
An diesem Morgen meinte er, sich das gestatten zu dürfen. Es handelte sich nämlich um die Begegnung der beiden Landesmeister. Der Japaner war angeblich Zen-Meister und daher in der Lage, sich während des Spiels jeglicher Emotion zu enthalten. Das klang paradox, denn schließlich war ein Go-Spieler auf den Sieg aus, genauso wie ein Polizist auf die Lösung seines Falls. Der Ausgang dieser Partie galt als politisch signifikant, ganz wie der Ausgang seines Falls. Doch das Klingeln des Telefons unterbrach jeden weiteren Gedanken an den Kampf auf dem Spielbrett. Es war Parteisekretär Li.
»Kommen Sie in mein Büro, Oberinspektor Chen.«
»Gibt es Neuigkeiten im Fall Wen?«
»Wir reden darüber, sobald Sie hier sind.«
»Ich esse nur noch schnell etwas.«
Es war früh, noch nicht mal halb acht. Also mußte es dringend sein. Normalerweise tauchte Li nicht vor halb zehn in seinem Büro auf.
Chen öffnete seinen kleinen Kühlschrank. Das einzige, was er fand, war ein Dampfbrötchen aus der Kantine, zwei Tage alt und steinhart. Er weichte es in einer Schale mit heißem Wasser auf. Von seinem Monatsgehalt war kaum noch etwas übrig. Nicht alle Ausgaben im Zusammenhang mit Inspektor Rohn konnte er sich zurückerstatten lassen; zum Beispiel den Jadeanhänger. Das Image der chinesischen Polizei hochzuhalten
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