Die Frau mit dem roten Herzen
Anglisten, doch im letzten Moment, bei der obligatorischen Überprüfung des Familienhintergrunds, stieß man auf einen Onkel, der Anfang der Fünfziger wegen ›konterrevolutionärer Umtriebe‹ hingerichtet worden war. Ich hatte diesen Onkel nie gesehen, aber die Verwandtschaft mit ihm genügte, um mich für den Auswärtigen Dienst zu disqualifizieren. Statt dessen wurde ich dem Shanghaier Polizeipräsidium zugeteilt. Ich hatte keinerlei Ausbildung für den Polizeidienst, aber man mußte mir eine Arbeit geben – damals waren die sogenannten Vorzüge des sozialistischen Systems noch in Kraft. Kein Uniabsolvent mußte sich Sorgen um eine Anstellung machen. Also meldete ich mich beim Präsidium. Die Existentialisten sprechen davon, daß man selbst die Wahl hätte, aber in der Mehrzahl der Fälle wird die Wahl für einen getroffen.«
»Dennoch haben Sie Karriere gemacht, Oberinspektor Chen.«
»Das ist eine andere Geschichte. Ich erspare Ihnen lieber die schmutzigen Details der Beförderungspolitik. Belassen wir es bei der Feststellung, daß ich bislang Glück hatte.«
»Es gibt interessante Parallelen zwischen uns. Zwei Polizisten, die am Bund sitzen und von denen keiner sich diesen Beruf ausgesucht hat. Wie Sie heute gesagt haben: Das Leben ist eine Kette unvorhersehbarer Ereignisse, und ihre Verkettung ist oft höchst zufällig.«
»Dazu fällt mir ein weiteres Beispiel ein. Genau an dem Tag, als ich den Fall Wen übernahm, wurde ich zu der Leiche im Bund-Park gerufen. Das war reiner Zufall. Ein Freund hatte mir einen Band mit ci -Gedichten geliehen. Ich ging an jenem Morgen in den Park, um vor der Arbeit noch ein paar Seiten zu lesen.« Mit der Kaffeetasse in der Hand begann er, ihr von dem Mordfall zu berichten.
Am Ende seiner Ausführungen sagte sie: »Vielleicht stand das Opfer in irgendeiner Verbindung zu Wen.«
»Das kann ich mir schlecht vorstellen. Außerdem hätten die Fliegenden Äxte, wären sie tatsächlich die Täter, nicht so viele Axtwunden an dem Opfer hinterlassen. Das ist wie eine Art Unterschrift.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte sie, »aber es erinnert mich an etwas, das ich über die italienische Mafia gelesen habe. Dort wurden die typischen Merkmale einer anderen Organisation imitiert, um die Polizei irrezuführen.«
Er stellte die Tasse ab und dachte über das Gesagte nach. Es wäre möglich, überlegte er, daß das Opfer im Park von jemandem umgebracht worden war, der vorsätzlich die Methode der Fliegenden Äxte kopiert hatte.
»Aber dafür muß es einen Grund geben.«
»Vielleicht ein Dritter, der davon profitieren könnte?«
»Ein Dritter …« Dieser Gedanke war ihm im Zusammenhang mit dem Bund-Park-Mord noch nicht gekommen.
Was könnte jemand davon haben, eine Leiche mit zahlreichen Axtwunden in den Park zu schaffen und sie dort liegenzulassen?
Schwer greifbare, verworrene Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf; wie das Funkeln des Kerzenlichts ließen sie sich nicht fassen, bevor sie im Dunkel zerronnen.
Die Kerze zwischen ihnen auf dem Tisch war weit heruntergebrannt und flackerte unstet. Seufzend leerte sie ihr Glas. »Ich wünschte, ich wäre auf Urlaub hier.«
Aber dem war nicht so, und sie hatten noch eine Menge Arbeit vor sich. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen.
Zögernd standen sie auf, stiegen langsam die Wendeltreppe hinunter und verließen das Cafe.
Als sie auf die Straßenecke zugingen, fand er zumindest eine der fehlenden Antworten. Was sich da hinter den Büschen bewegte, war ein Pärchen, das eng umschlungen auf einer gelben Plastikunterlage saß und die Welt um sich her zu vergessen suchte. Die beiden ahnten nicht, daß nur wenige Tage zuvor genau an dieser Stelle eine Leiche gefunden worden war.
Dadurch wurde immerhin eine seiner Vermutungen bestätigt. Die Leiche konnte unmöglich schon vor Schließung des Parks dort hingelegt worden sein. Die Parkwächter hätten, selbst im Dunkeln, jeden bemerkt, der sich dort verborgen hielt.
»Noch ein romantisches Bild?« fragte sie, als sie seine Blickrichtung bemerkte.
»Oh nein, ich denke nicht über Gedichtzeilen nach.« Doch er wollte ihr diese romantische Szene nicht durch die Erwähnung der Leiche verderben.
18
S IE VERLIESSEN den Park.
Menschen standen Schulter an Schulter am Ufer und unterhielten sich, ohne sich um die neben ihnen Stehenden zu kümmern. Nach ein paar Schritten bemerkte Catherine, daß ein Paar seinen Platz an der Kaimauer freigab.
»Ich würde auch gern eine
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