Die Frau mit dem roten Herzen
zuverlässig.
An einer der Buden blieb sie stehen, um eine Ledertasche zu inspizieren. Sie hängte sie sich über die Schulter und schien zufrieden, doch statt mit dem Feilschen zu beginnen, legte sie die Tasche zurück. »Ich möchte lieber noch schauen, was die anderen haben.«
Sie betraten einen winzigen Laden und sahen auf den Regalen die altbekannte, preiswerte Produktpalette mit den »Made in China«-Etiketten. Solche Waren wurden auch in den staatlichen Läden angeboten. Weiter im Inneren des Raumes gab es jedoch alle Arten von imitierten Luxusgütern. Die Besitzerin, eine breitschultrige Frau Ende Vierzig, begrüßte sie mit einem Grinsen.
Catherine hakte sich bei ihm unter und flüsterte: »Nur wegen der Besitzerin. Damit sie mich nicht für eine Amerikaner-Tussi hält.«
Die Geste schien naheliegend, freute ihn aber dennoch.
Sie begann, sich wie alle anderen Kunden umzusehen; die Ernsthaftigkeit, die sie dabei an den Tag legte, hätte er allerdings nicht von ihr erwartet.
Ein anderer Laden bot traditionelle chinesische Kleidung an. Da die Straße von vielen ausländischen Touristen besucht wurde, die sich besonders für Exotisches interessierten, gab es hier auch entsprechend spezialisierte Boutiquen. Ihr Blick blieb an einem scharlachroten Morgenmantel mit aufgesticktem goldenem Drachen hängen. Als sie über den weichen Stoff strich, sagte die Besitzerin, eine grauhaarige Frau mit grauumrandeter Brille, freundlich zu ihr: »Sie können hier probieren, amerikanische Lady.«
»Wie denn?« Catherine sah sich um. Weit und breit war keine Umkleidekabine zu sehen.
»Ganz einfach«, erklärte die Besitzerin und deute te auf eine Stoffbahn, die an einem Haken an der Rückwand hing. »Haken Sie den Stoff an der gegenüberliegenden Wand fest, und schon ist es der Vorhang zu einer Kabine. Dahinter können Sie sich um ziehen«
»Genial«, bemerkte Chen. Doch was sich nun von einer Wand zur anderen spannte, war nicht wirklich ein Vorhang. Dazu war der Stoff viel zu durchscheinend und kurz. Das Ganze wirkte eher wie eine modische Schürze.
Er bemerkte, wie Catherines Kleid hinter dem Vorhang zu Boden glitt. Als er den Blick hob, sah er einen Moment lang ihre weißen Schultern, bevor sie in den scharlachroten Morgenmantel schlüpfte.
»Lassen Sie sich Zeit, Catherine. Ich rauche draußen eine Zigarette.«
Während er sich vor dem Laden eine Zigarette anzündete, beobachtete er einen jungen Mann, der vor einem anderen Schaufenster stand, eine Nummer in sein Handy eintippte und einen langen Blick zu ihnen herüberwarf. Ein chinesischer Zaungast wäre fasziniert vom Anblick einer Amerikanerin, die sich hinter einem spärlichen Vorhang umzog, doch Chen fühlte sich nicht wohl in seiner derzeitigen Rolle als Leibwächter und »Beschützer der Blumen«, wie die klassische chinesische Literatur das nennen würde.
Und noch etwas anderes beunruhigte ihn, er kam nur nicht darauf, was es war. Er trat die halb gerauchte Zigarette aus und ging zurück in den Laden, als Catherine eben den Vorhang beiseite schob. Den Morgenmantel hatte sie bereits in einer Plastiktüte bei sich.
»Ich nehme ihn.«
»Die amerikanische Lady spricht sehr gut Chinesisch«, sagte die Besitzerin mit pflichtschuldigem Lächeln. »Ich habe ihr den Chinesenpreis berechnet.«
Sie bummelten weiter, feilschten, verglichen und machten hie und da kleine Einkäufe. Während sie sich durch die Menge drängten, begann es zu regnen. Eilig suchten sie Unterschlupf in einem garagenähnlichen Laden, in dem eine junge Verkäuferin auf einem Barhocker hinter einer Theke saß. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein und sah mit ihren ebenmäßigen Zügen richtig niedlich aus. Sie trug ein schwarzes DKNY-Oberteil, das über dem Nabel endete, und Shorts mit einem Tommy-Hilfiger-Logo an der Hüfte. Ihre Prada-Sandalen ließ sie baumeln, während sie an einer braunen Zigarette der Marke More zog. Als sie aufstand, um die Kunden zu begrüßen, wirkte sie, als präsentierte sie den Inbegriff aktuellster Mode.
»Willkommen in unserem Laden, Großer Bruder.«
Was für ein sonderbarer Gruß, dachte er. Die Verkäuferin schien ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihn zu konzentrieren.
»Draußen regnet es«, erwiderte er. »Wir sehen uns ein wenig um.«
»Lassen Sie sich Zeit, Großer Bruder. Für Ihre Freundin ist das Beste gerade gut genug.«
»Da haben Sie recht«, sagte er.
»Danke«, sagte Catherine auf chinesisch.
Die Verkäuferin stellte sich ihnen vor: »Ich
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