Die Frau mit dem roten Tuch
wollte, dass wir uns nur zufällig begegnet waren, also versuchte ich, so vage zu antworten, wie ich konnte.
»Zwei«, sagte ich. Es war nicht einmal weit von der Wahrheit entfernt, denn ich dachte an deine zwei und meine zwei.
Aber sie ließ leider nicht locker. Sie wollte mehr über unsere Kinder wissen, und ich weiß nicht, warum, aber von da an hielt ich mich an Bergen. Ich sagte kein Wort über meine Mädchen, sondern erzählte, so sparsam ich konnte, von der neunzehn Jahre alten Ingrid und dem sechzehn Jahre alten Jonas. Dabei wusste ich selbst erst seit ein paar Stunden von ihnen. Der Vorteil war, dass ich so mit einer Lüge auskam – Lügner brauchen bekanntlich ein gutes Gedächtnis, und darauf wollte ich es nicht ankommen lassen. Kurzum, ich habe so getan, als wäre ich dein Mann.
Sie wiederum muss schnell nachgerechnet haben, denn sie antwortete: »Ach, wirklich? Dann hat es länger gedauert, bis Sie Kinder bekommen haben?«
Ich dachte: Du hast also gehofft, wir hätten blutjung, wie wir damals waren, in deinem Hotel ein Kind gezeugt?
Aber ich zeigte nur auf den Gletscher und sagte: »Der war damals noch viel größer.«
Sie nickte und lachte. Ich wusste nicht, warum sie lachte. Dann sagte sie: »Es war schön, Sie wiederzusehen.«
Ich war plötzlich vollkommen durcheinander. Vielleicht weil ich einen kurzen Augenblick an das ganze Leben denken musste, das wir voneinander getrennt verbracht hatten. Zugleich dachte ich auch an den Fähranleger in Revsnes, an die Streifenwagen in Leikanger und an das Birkenwäldchen oben im Mundalstal.
Ich nickte wieder in Richtung Gletscher.
»Noch größere Sorgen mache ich mir über die Gletscher im Himalaya«, sagte ich. »Auch die ziehen sich zurück, und es gibt einige Tausend davon, die einige Hundert Millionen Menschen mit Wasser versorgen.«
Ich ging mein Glas noch einmal füllen, um weiteren Fragen zu entgehen. Dann wollte ich ein paar Schritte an dem blaugrünen Fluss entlanggehen. Aber ich ging immer weiter und dachte an das Buch, das du an jenem Abend mit aufs Zimmer genommen hattest. Bei der Abreise hast du es dann nach Oslo mitgehen lassen. Nach der Begegnung mit der »Preiselbeerfrau« lag es zwischen uns wie ein Schwert. Wenn du nicht zufällig dieses Buch gefunden hättest, wären wir beide vielleicht immer noch zusammen. Oder wie siehst du das?
Mit der »Preiselbeerfrau« wären wir vielleicht noch fertiggeworden. Aber innerhalb weniger Tage konntest du sie in einen viel größeren Zusammenhang stellen.
Mir kommen so viele Gedanken, Steinn, aber jetzt muss ich aufhören. Ich schalte den Computer aus und melde mich irgendwann in den nächsten Tagen von Bergen aus.
4
Ich sitze an meinem Schreibtisch vor dem Fenster in Skansen und schaue über Bergen. Draußen ist wunderschönes Wetter, es ist schon fast herbstlich. Zum ersten Mal in diesem Jahr sehe ich gelbe Blätter an den Bäumen, und die Tage werden kürzer.
Ich sitze in meinem alten Kinderzimmer. Ingrid hat es übernommen, als sie drei Jahre war, aber als sie vor zwei Monaten mit ein paar Freundinnen nach Møhlenpris gezogen ist, habe ich es mir zurückgeholt. Ich habe den alten Teppichboden herausgerissen, das alte Parkett abgeschliffen und die Wände in einem hellen Gelb gestrichen. Jetzt ist es wieder meine kleine Höhle. Ich nenne es die Bibliothek, aber Niels Petter tut so, als gehöre es mir allein. Er ist ein großzügiger Mensch.
Ingrid war so süß. Als sie und einer ihrer Freunde die letzten Sachen holten, Kartons mit Kleidern, Kleiderbügeln und all so was, fiel sie mir plötzlich um den Hals und bedankte sich, dass ich’s ihr ausgeliehen hatte. Sie bedankte sich für ein Zimmer, das sie bewohnt hatte, seit sie drei Jahre alt war. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass es vorher mein Zimmer gewesen war, als Erwachsene und als Kind.
Ich habe nur fünf Jahre nicht in diesem Haus gewohnt.
Als ich mich an jenem Tag in den Nachmittagsexpress setzte, musste ich weinen. Was glaubst du, wie es mir in Haugastøl ging? Ehe wir Finse erreichten, setzte sich der Schaffner neben mich und tröstete mich. Ich sagte kein Wort, und er stellte auch keine Fragen, aber er tröstete mich. Nachdem er in Myrdal draußen mit der grünen Flagge gewinkt hatte, kam er zurück. Ich weinte noch immer. Jetzt brachte er mir eine Tasse Tee, keinen Pappbecher, wie man ihn vom Imbisswagen kaufen kann, sondern eine richtige Tasse. Da konnte ich zum ersten Mal zu ihm aufschauen und
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