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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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Theorien aufstellen, aber auch sie müssen auf dem gründen, worüber wir etwas zu wissen meinen.
    Vielleicht ist es das Wort »glauben«, das mich aus der Spur bringt. Dieses Wort gibt es einfach nicht in meinem Wortschatz. Ich finde es leichter, über Intuition zu reden. Ich habe sicher mehr Intuition, als ich Glauben habe, und vielleicht gerade dann, wenn es um die Frage des Bewusstseins geht.
     
    Dann schreib doch darüber, Steinn. Ich halte Intuition auch für ein gutes Wort. Du kannst zum Beispiel erzählen, was du in der Nacht vor unserem Wiedersehen in Fjærland geträumt hast. Hast du nicht gesagt, es sei ein kosmischer Traum gewesen?
     
    Doch, und er steckt mir immer noch in den Knochen. Es ist so, als hätte ich das, was in diesem Traum geschehen ist, wirklich erlebt. Nein, ich habe nicht geträumt, ich saß wirklich in einem Raumschiff …
     
    Also erzählst du mir davon?
     
    Auch der ganze Tag vor unserer Begegnung hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Obwohl ich eigentlich nur im Zug und im Bus gesessen habe und durch die Gegend gefahren bin, kann ich den Tag nicht wirklich von dem Traum trennen, der daraus entstanden ist. Also muss ich mit dem Tag auch anfangen.
     
    Wenn du den Traum selbst nicht vergisst, kannst du anfangen, wo du willst. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, denn aus verschiedenen Gründen kann ich mich erst morgen Abend wieder melden. Einer der Gründe ist, dass ich finde, ich sollte dir nicht schreiben, solange Niels Petter zu Hause ist. Es ist nicht so, dass er es nicht erträgt, mir ist nur die Vorstellungunangenehm, dass er mich stundenlang in die Tasten hauen hört. Ich mag es ja auch nicht von anderen hören, so wenig, wie ich anderer Leute Telefongespräche hören mag. Es ist mir unangenehm und peinlich. Morgen haben wir außerdem Planungssitzung in der Schule. Ich freue mich sogar darauf. Es wird guttun, wieder loszulegen.
     
    Wie schön. Und es passt mir sehr gut, denn ich werde auch ein wenig Zeit brauchen. Ich kann nicht sagen, wann genau ich mich wieder melden werde.
     
    Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich bin hier.
    Ich höre, wie er sich räuspert, ich mache Schluss. Ich denke, ich werde ein Glas Rotwein vorschlagen. A nightcap heißt das bei uns.
    Zum ersten Mal in diesem Jahr hat er ein Feuer im Kamin gemacht. Gemütlich.

5
     
    Es ist der 17. Juli 2007. Ich werde in aller Frühe von einem mittelstarken Gewitter geweckt. Es ist ein grauer Tag, bleischwere Wolken hängen über Oslo. Ich werde mit dem Zug nach Gol fahren und von dort mit dem Bus nach Lærdal und Fjærland, eine Reise von fast neun Stunden. Ich war noch nie gern allein mit dem Auto unterwegs, ich reise lieber so, dass ich lesen oder einfach mal abschalten kann.
    Berit fährt mich zum Bahnhof Lysaker, sie muss sowieso zu ihrem Vater, ihm saubere Wäsche bringen, und ich habe ein paar Minuten auf dem Bahnsteig, bevor um 8.21 Uhr der Zug nach Bergen eintrifft. Auch hier donnert es in unregelmäßigen Abständen, es ist ein düsterer Sommermorgen. Es regnet nicht, aber die koksgrauen Wolken machen einen fast nächtlichen Eindruck, und obwohl es längst Tag ist, sehe ich jeden Blitz, der den Himmel zerreißt. Dann fährt der Zug nach Bergen ein, und ich suche meinen Platz. Wie immer habe ich einen Fensterplatz gebucht, Nummer 30 im Wagen 5.
    Bald bin ich in Drammen, und die Fahrt geht weiter nach Norden, vorbei am Drammensvassdraget in Richtung Vikersund und Hønefoss. Die Wolken hängen noch immer tief, die meisten Baumwipfel sind in Nebel gehüllt, aber zwei oder drei Meter unter den niedrigen Wolken herrscht gute Sicht. Der Drammenselv führt hohes Wasser, und auch am Tyrifjord stehen Bäume im Wasser und sind Anleger überschwemmt. So war es schon mehrmals in diesem Sommer, ein Katastrophensommer, werden viele Bauern sagen, denn in großen Teilen des Landes hat es Überschwemmungschäden gegeben, nicht zuletzt am Drammensvassdraget. Ganze Ernten sind verloren gegangen.
     
    Ich weiß nicht, ob es mit dem Wetter zusammenhängt, aber vom ersten Augenblick an sind an dem Tag meine Gedanken glasklar. Ich fühle mich mehr als nur normal wach und um eine Spur schlauer als je zuvor im Leben. Man könnte sagen, ich fühle mich intensiv anwesend in dem gelben Zugabteil, das sich durch die regenschwere Landschaft bewegt. Und ich frage mich: Was ist Bewusstsein? Was sind Gedächtnis und Erinnerung? Was bedeutet es, sich an etwas zu »erinnern« oder etwas zu »vergessen«? Was ist es,

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