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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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begrenzte, womöglich bewusst so zusammengestellte Auswahl an Büchern, sie waren fast alle ziemlich alt, und die meisten behandelten Themen aus Geografie, Geologie und Glaziologie. Doch dann, als spielten wir beide dort den spirituellen Gegenpart, entdeckte ich dieses Buch, Das Buch der Geister, veröffentlicht anno 1893 in Christiania, nur zwei Jahre nachdem das alte Hotel gebaut worden war. Es war aus dem Französischen übersetzt, der französische Titel war Le Livre des Esprits, in Paris war es bereits 1857 erschienen.
     
    Es war der Abend vor unserer Begegnung mit der Preiselbeerfrau. Und schon in dem Billardzimmer fingen wir an, in dem Buch zu blättern, ich habe dir wohl auch einige Sätze daraus vorgelesen, ehe wir das Buch mit aufs Zimmer genommen haben. Dort hatten wir erst unseren Spaß damit, doch, sokann man sagen. Wir haben einander daraus vorgelesen und uns amüsiert. Denn obwohl das Buch von einem Menschen aus Fleisch und Blut geschrieben worden war, war es doch ein einziges Manifest aus der Geisterwelt, genauer gesagt enthielt es eine Sammlung von Nachrichten der Geister Verstorbener, die Menschen bei spiritistischen Sitzungen empfangen hatten. Ich weiß noch, wie du es am Ende auf den Nachttisch gelegt und mir zugeflüstert hast: Lieber eine lebende Frau in den Armen als zehn Geister auf dem Dach. Ich fand es bezaubernd, das will ich gern gestehen. Es war Nacht.
    Aber von da an war dieser Keim in mir gepflanzt. Innerhalb weniger Wochen wurde ich zur Spiritualistin. Zur christlichen Spiritualistin. Das wurde mein Glaube, in ihm fand ich Frieden, meine Gemütsruhe.
    Am nächsten Nachmittag begegnete uns die Preiselbeerfrau. Seltsam, nicht wahr? Aber wenn wir uns erst einmal für etwas öffnen, dann öffnet sich auch etwas für uns, glaubst du nicht auch?
    Es kann jedenfalls kein Vogel ins Haus fliegen, solange alle Fenster geschlossen sind. Er knallt dann nur hilflos gegen die Fensterscheibe.
     
    Wenn wir bestimmte Dinge erst einmal erfahren haben, seien es nun ein Vorspuk, Telepathie, Hellseherei oder präkognitive Träume, dann erkennen wir zwangsläufig auch, dass es neben den Körpern, die wir bewohnen, auch Seelen gibt, die einer anderen Ordnung angehören als der materiellen. Für mich war der Weg zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele jedenfalls sehr kurz.
     
    Aber wie sieht es jetzt gerade bei dir in Oslo aus? Schläfst du?
     
    Nein, ich lese. Es geht auf zwei. Sitzt du noch immer am Computer?
     
    Ja.
     
    Es ist fast nicht zu glauben. Du hast wirklich Erlösung gefunden, die Rettung für deine verängstigte Seele … Ich bin nahe daran, dich zu beneiden, denn ich stehe außerhalb deines neuen Glaubens und friere.
     
    Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass ich dich mitnehmen kann. Ich kann dir etwas geben, Steinn. Das verspreche ich. Irgendwann werde ich dich überzeugen.
     
    Und ich werde dich an dem Versuch nicht hindern. Vielleicht ist mein Pantheismus ja auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber jetzt gehen wir wohl besser schlafen …
     
    Ja, jetzt gehen wir schlafen. Und siehst du, jetzt hast du das einmal vor mir gesagt.
     
    Gute Nacht!
     
    Gute Nacht!
    Nur noch eins: Ich habe mir morgen den ganzen Tag freigehalten, um dir haargenau zu erzählen, was damals, vor überdreißig Jahren, geschehen ist. Ich werde ein paar Stunden schlafen, dann mache ich mich so früh wie möglich an die Arbeit. Ich werde versuchen, dir über den Tag verteilt immer wieder etwas zu schicken. Du erinnerst dich an die ganze Geschichte des Universums, ich erinnere mich dazu noch daran, was wir vor mehr als dreißig Jahren zusammen erlebt haben – ist das in Ordnung so? Meinst du, wir sind inzwischen reif genug, um das, was geschehen ist, in Worte zu fassen?
     
    Wir müssen es darauf ankommen lassen. Vor Zeiten haben wir einander versprochen, das alles niemals wieder aufzuwühlen. Aber niemand kann uns daran hindern, uns gegenseitig von dem Schweigegelübde zu entbinden.
    Weißt du, woran ich schon den ganzen Abend nippe?
     
    Calvados! Ich rieche es bis hierher.
     
    Beeindruckend. Du hast wirklich gewisse Fähigkeiten. Schlaf gut! Bis morgen!
     
    Schlaf gut!

7
     
    An einem Nachmittag Ende Mai 1976 stehe ich in Kringsjå vor dem Schlafzimmerfenster. Das Fenster steht offen, es ist mild, und ich atme süßliche Frühlingsluft. Ich bin mir erst nicht sicher, ob es schon der Duft des neuen Jahres ist, den ich in mich aufnehme, oder der süßlich-saure Geruch des

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