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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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vergingen, und am nächsten Vormittag lag die Schwalbe immer noch da wie ein Stück Abfall. Ich musste sie begraben, ganz allein, denn meine Eltern waren in Bergen. Ich fand, meine Großmutter hätte mir helfen können, aber für sie war das Begraben toter Vögel Kindersache. Erinnerst du dich, wir sprachen über die Geschichte manchmal, wenn ich meine Anfälle hatte.
    Von da an, seit ich zehn oder elf Jahre alt war, wuchs ich mit der intensiven Erkenntnis auf, dass ich selbst nichts anderes bin als so ein zerzauster Vogel. Dass ich Natur bin. Die Zeit der Unschuld und der Unbeschwertheit lag von da an hinter mir.
    Doch, Steinn, es ist wunderbar zu denken, dass immer neue Kinder auf die Welt kommen, die für lange und augenblicksgesättigte Zeiten ohne Todesbewusstsein leben dürfen, ohne Trauer und Angst. Für mich war dieses Leben leider schon mit zehn oder elf Jahren zu Ende, jedenfalls nahm es da eine neue Wendung. Schon lange vor der Pubertät hatte ich Angstzustände. Ich war immer ein wenig außerhalb der Welt oder jedenfalls auf dem Weg aus ihr heraus.
     
    Dann kam ich nach Oslo und lernte dich kennen. Die Zeit dazwischen war nicht wichtig, in meiner Erinnerung erscheint sie nur als endlose Reihe von Klavier- und Tennisstunden und Büffeln für die Schule, in der letzten Phase kamen noch ein paar Flirts und Besäufnisse hinzu. In dir bin ich dann meinen eigenen Verletzungen begegnet, denn auch du warst verwundet, man merkte es an deinem Ernst. Wie ich hattest du erkannt, dass es für Menschen wie uns keine andere Hoffnung geben kann als das Leben hier und jetzt. Wir waren so nackt, einander so wehrlos ausgeliefert, und nur die Ekstase konnte wenigstens für eine Weile die Gedanken darüber aussperren, wohin wir am Ende unausweichlich unterwegs waren.
     
    Was mich betrifft, so hatte ich ein dualistisches Bild vom Dasein, und auch das hatte ich seit jenem Kindheitssommer bei Großmutter mit mir herumgetragen. Meine Erfahrung war, dass wir vor allem Seelen sind. Gewiss,da waren die körperlichen Bedürfnisse, die uns immer wieder entflammten, allerdings auch leicht zu befriedigen waren, aber sie waren etwas völlig anderes, etwas, das uns als Mann und Frau eigen war und das wir in heißen Augenblicken genossen, das uns im tiefsten Herzen aber als unsicher und äußerlich erschien. Hast du das damals nicht auch so erlebt?
    Wie konnte ich mich freuen, wenn du hinter mich getreten bist, mir eine Hand auf die Stirn gelegt und in den Nacken gepustet hast, wenn du meine Haare ein wenig hochgehoben und mir ins Ohr geflüstert hast: Hallo, Seele! Bei solchen Gelegenheiten wolltest du nicht nur mit mir schlafen, jedenfalls nicht immer. Du hast damals wirklich mit meiner Seele geredet, Steinn. Du hast eine Luke in eine andere Dimension geöffnet, zum Geist, und meine Seele hat geantwortet. Meine Antwort war meistens nur: Du … Das war genug. Was kannman sonst auch zueinander sagen, von Seele zu Seele? Näher konnte ich dir nicht kommen.
     
    Dann war da das, was ich einen Vorspuk nenne. Daran muss ich dich erinnern, Steinn. Es kam nämlich vor, dass du die Wohnungstür in Kringsjå schon eine halbe Stunde, bevor du wirklich gekommen bist, aufgeschlossen hast. Die ersten Male war ich mir sicher, dass du es warst, und stürzte zur Wohnungstür, um dich zu begrüßen, ein paarmal auch, um dich gleich ins Schlafzimmer zu locken. Wie du weißt, kam es vor, dass ich das regelrecht plante. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass das Geräusch des Schlüssels im Schloss nur ein Vorspuk war, dass du nicht gekommen bist, sondern nur erst »am Kommen« warst, wie man sagt. Das konnte durchaus praktisch sein. So hatte ich Zeit, den Tisch zu decken und etwas Leckeres zu kochen, oder ich konnte mich ein wenig zurechtmachen, bevor ich dich verführte – du erinnerst dich, es gelang mir immer, wenn ich einen ernsthaften Versuch machte. An manchen Winterabenden brannten Kerzen und das Schlafzimmer war vorgeheizt, wenn du nach Hause kamst, und du wusstest, was dich erwartete, du hast es scherzhaft Liebessauna genannt und erwartungsvoll gelacht. – Das alles schreibe ich nur, um dich daran zu erinnern, dass mein »Hang« zu dem, was du das Okkulte nennst, für mich immer etwas höchst Reales war, jedenfalls so lange, wie wir zwei einander kannten.
    Denn der Vorspuk war noch nicht alles. An einem Maitag 1976 wachten wir zusammen auf, es war kurz bevor wir auf den Jostedalsbreen gehen wollten. Ich hatte geträumt und drehte mich noch

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