Die Frau mit dem roten Tuch
einen Aufprall auf dem Auto, und ein scharfer Ruck geht durch die Sicherheitsgurte. Du drosselst das Tempo, oder jedenfalls wird das Tempo gedrosselt, doch kurz darauf gibst du schon wieder Gas, und dann vergehen vielleicht vier, fünf Sekunden, ehe jemand von uns etwas sagt. Warum, ist ein Rätsel, aber nicht das größte. Die viel spannendere Frage ist, was wir dachten. Was hast du gedacht, Steinn, und was dachte ich? Vielleicht gar nichts. Vielleicht standen wir nur unter Schock.
Nachdem wir den langen See passiert haben, begegnet uns ein weißer Lieferwagen, der über die Berge nach Ostnorwegen fährt, und jetzt sagst du aufgeregt: Ich glaube, wir haben einen Menschen angefahren!
Es ist, als hätten wir mit ein und demselben Gehirn gedacht, denn im selben Augenblick ist es auch mir aufgegangen. Mit einem Ruck wendest du dich mir zu, und ich nicke heftig.
Ich weiß, sage ich. Wir haben die Frau mit dem roten Tuch angefahren.
Inzwischen haben wir die Berghütte Breistølen passiert und die erste scharfe Kurve auf der Abfahrt nach Westnorwegen erreicht, dort bremst du und wendest. Du sagst nichts,aber ich kann an der Haltung deiner Schultern und deinem starren Blick ablesen, was du denkst. Vielleicht braucht sie Hilfe. Vielleicht ist sie schwer verletzt. Vielleicht haben wir einen Menschen getötet …
Minuten später haben wir die Stelle erreicht, wo das Auto im Zwielicht mit etwas kollidiert ist. Du hältst an, und wir springen aus dem Wagen. Es ist kalt, ein leichter Wind weht. Aber wir sehen keinen Menschen. Du stellst fest, dass der rechte vordere Scheinwerfer zerbrochen ist, und sammelst einige Glassplitter vom Boden auf. Wir sehen uns um, und plötzlich zeigst du auf ein hellrotes Tuch, das nur zwei Meter von der Straße und unserem Wagen entfernt lose übers Heidekraut gebreitet liegt. Das Tuch sieht so frisch und trocken aus, als sei es eben erst von der Schulter einer Frau genommen worden. Es bewegt sich im Wind, als wäre es lebendig, und wir wagen beide nicht, es anzufassen. Wir schauen uns nur um, aber obwohl man in der Sommernacht gut sehen kann, können wir in keiner Richtung auch nur die Umrisse eines menschlichen Körpers entdecken. Wir haben nur das rote Tuch als Anhaltspunkt. Du findest noch zwei Scherben vom Scheinwerfer, dann fahren wir. Rasch.
Wieder stehen wir unter Schock. Dein Fuß auf dem Gaspedal zittert, deine Hände am Lenkrad zittern, und ich glaube, wir sagen beide lange nichts. Aber unsere Seelen sind so fest miteinander verbunden, dass wir Zugang zu den Gedanken und Gefühlen des anderen haben.
In den folgenden Stunden und Tagen haben wir das alles wieder und wieder analysiert, aber schon als wir wieder zusammen in dem roten Käfer saßen, war uns klar, dass es die rätselhafte Frau auf dem Weg neben der Straße gewesen war, die wir angefahren hatten, die Frau, die wir durchs Heidekraut hatten gehen sehen, bevor wir uns die kleine Extraeskapadeunten am Fluss gegönnt hatten. Durch diese Eskapade hatten wir ihr einen fatalen Vorsprung gegeben.
Die einzige Spur, die wir von ihr gefunden hatten, war das rote Tuch. Wir dachten deshalb beide, dass jemand die Verletzte oder Verunglückte vom Straßenrand aufgehoben und in den weißen Lieferwagen gelegt haben musste. Wir hielten das für die einzig mögliche Erklärung für ihr Verschwinden. Es war viele Jahre, bevor es Handys gab, und wir stellten uns vor, wie der Fahrer des weißen Lieferwagens am ersten Hof in Hemsedal angehalten, um Hilfe gebeten und die Polizei und einen Krankenwagen gerufen hatte. Oder hatte er lieber das Gaspedal durchgetreten, um das Opfer unseres Übermuts selbst zur Unfallstation nach Gol zu bringen? Und wenn es, auch dieser Gedanke kam uns, gar keinen Grund mehr gab, um das Gaspedal durchzutreten? Nachdenklich und andächtig fuhr der Fahrer des weißen Lieferwagens dann zur Polizei in Hemsedal, um die sterblichen Überreste einer verunglückten Frau abzuliefern, die er oben auf der 52 gefunden hatte. Vielleicht sagte er auch etwas über einen roten Käfer, der ihm entgegengekommen war.
Es ging wieder abwärts, in Richtung Westnorwegen, wieder passierten wir Breistølen und erreichten die Kurve, wo wir zuvor gewendet hatten. Dort hast du plötzlich vor dem Abgrund angehalten. Du wolltest mich aus dem Auto haben. Raus!, hast du geschrien. Raus!
Du warst wütend, es war, als würdest du mich plötzlich hassen, als wolltest du mir etwas antun, jedenfalls wagte ich nicht zu widersprechen. Ich habe den
Weitere Kostenlose Bücher