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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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letzten Jahres, aber es können unmöglich schon die neuen Triebe der Bäume sein, die ich rieche, darum beschließe ich, dass es sich um die feuchte Erde handeln muss, denn aus der fetten Erde des vergangenen Jahre erwachsen ja die neuen, frischen Triebe. Ich sehe eine übermütige Elster in einem Strauch, und ich sehe eine Katze, die versucht, die Elster aufzuscheuchen. Die Elster erinnert mich an den Vogel, den ich in Kolgrov begraben musste, und wieder habe ich dieses intensive Gefühl, Natur zu sein, genau wie damals. Und da passiert es, ich bekomme einen meiner Anfälle. Erst treten mir die Tränen in die Augen, dann überkommen mich schlagartig heftige Kopfschmerzen. Ich weine, ein erschrockenes Schluchzen ist wahrscheinlich das Erste, was du hörst. Aber du hast die Situation sofort erfasst, denn ich höre, wie du ins Zimmer kommst. Du gehst an dem Plakat vorbei, Magrittes Schloss in den Pyrenäen, aber bevor du mich berühren kannst, fahre ich herum und sehe dich an. Eines Tages sind wir nicht mehr!, keuche ich, oder vielmehr stoße ich es schluchzend aus. Dann weine ich wieder, aber ich lasse mich von dir trösten. Vermutlich überlegst du fieberhaft, was zu tun ist, undwomöglich kommst du zu dem Schluss, dass der Vorschlag, ein, zwei Runden um das Sognsvann zu drehen, für diesmal nicht reicht. Ich glaube, ich weiß noch wortwörtlich, was du gesagt hast, es war nur eine Minute, nachdem du die Arme um mich gelegt hast, du hast immer mit der linken Hand in meinen Haaren gespielt, den rechten Arm hast du mir um den Rücken gelegt. Es gibt viele Arten, eine Frau im Arm zu halten, du hattest deine.
    Wisch dir die Tränen ab, hast du gesagt. Wir gehen mit Skiern auf den Jostedalsbreen.
     
    Eine halbe Stunde später saßen wir im Wagen, mit den Skiern auf dem Dach und den Rucksäcken im Kofferraum. Unser letztes wildes Abenteuer war im Sommer zuvor das Höhlenmenschenleben auf der Hardangervidda gewesen. Jetzt stand die Sonne wieder hoch am Himmel, und wieder war die Saison für unsere Eskapaden eröffnet. Ich fand es wunderbar. Ich fand diese Eskapaden ja so wunderbar!
    Es waren starke Stimmungsschwankungen, auf die du bei mir gefasst sein musstest. Noch ehe wir Sollihøgda erreicht hatten, geriet ich zur Abwechslung in eine regelrechte Euphorie. Du aber auch. Wir waren so glücklich, Steinn! Ich weiß noch, wie ich sagte, dass keine zwei Menschen auf der Welt einander besser kennen könnten als du und ich. Wir lebten zusammen, seit wir neunzehn waren, eine Ewigkeit damals, fünf ganze Jahre. Wir redeten schon darüber, dass wir langsam alt würden. Heute tut dieser Gedanke fast weh, denn in Wirklichkeit waren wir natürlich blutjung und hatten noch ein ganzes Leben vor uns. Das ist jetzt einunddreißig Jahre her.
    Wir hatten einen roten VW, einen Käfer, und als wir nach Sundvollen hinunterfuhren, scherzten wir darüber, dass wir nicht nur Mann und Frau seien, sondern auch zwei Schwalben,die über den Tannenwipfeln kreisten und den roten Käfer aus der Vogelperspektive sahen. Weißt du noch? Wir glaubten, zusehen zu können, wie wir uns, kurz bevor es Juni wurde, mit Skiern auf dem Dach durch die Landschaft schlängelten. Und wir waren uns sicher, dass das erleuchtendste Miteinander zweier Menschen auf dem Erdball in diesem Augenblick in unserem roten VW stattfand. Wir hatten ihn mit dem Geld für die Sommerjobs von zwei Jahren bezahlt.
    Am Krøderen und in Hallingdal hatten wir das Reden endlich satt – wir hatten über alles gesprochen! – , und von Bromma an kam es vor, dass wir ein oder zwei Minuten stumm nebeneinander saßen. Aber wir sahen ja dasselbe, und es war nicht nötig, über alles zu sprechen, was wir sahen. Einmal schwiegen wir geschlagene vier oder fünf Minuten, aber dann prustete einer von uns beiden los, und wir kriegten uns kaum ein vor Lachen. Danach ging das Geplapper von vorne los.
    Wir waren lange gefahren, aber nun lagen Hemsedal und Westnorwegen vor uns. Ganz oben in Hemsedal stand ein riesiger LKW mit ausländischem Kennzeichen auf einem Parkplatz rechts von der Straße. Wir haben in den darauffolgenden Wochen oft darüber gesprochen. Einige Kilometer weiter sahen wir eine Frau, die in unserer Fahrtrichtung auf die Berge zuging. Sieh mal, hast du gesagt. Und dann: Hast du gesehen?
    Es war spätabends, und wir fanden es bemerkenswert, dass eine Frau um diese Zeit allein zu Fuß unterwegs war. Der Grund, warum wir nicht anhielten und fragten, ob sie mit uns fahren wollte, war,

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