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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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dass sie nicht auf der Straße selber ging, sondern auf einem Fußweg ein paar Meter rechts von der eigentlichen Fahrbahn. Vielleicht bewegte sie sich auch zu zielstrebig durchs Heidekraut, als dass wir sie hätten ansprechenwollen. Sie trug ein graues Gewand und um die Schultern ein hellrotes Tuch. Es war ein malerischer Anblick, und das Bild dieser Frau mit dem roten Tuch in der blauen Sommernacht steht mir noch immer wie eine Szene aus einem Film vor Augen. Mit raschen, energischen Schritten war sie aus irgendeinem Grund unterwegs ins Hochgebirge, nein, sie wollte das Gebirge überqueren, Steinn. Auch sie war auf dem Weg nach Westnorwegen. Du bist langsamer gefahren, und als wir an ihr vorüberkamen, schauten wir beide zu ihr hin. An den folgenden Tagen waren wir absolut einer Meinung, was das Aussehen der Frau anging. Eine ältere Frau, sagten wir. Eine Frau in mittleren Jahren mit einem roten Tuch über den Schultern. Oder wir sagten, eine Dame von um die fünfzig …
     
    Aber bist du überhaupt wach, Steinn? Bist du auch früh aufgestanden? In diesen Stunden, in denen ich in dem hellgelben Zimmer sitze und ununterbrochen schreibe, musst du in meiner Nähe sein. Vor einem ganzen Menschenalter haben wir uns einander versprochen, nie wieder davon zu sprechen, was damals dort oben in den Bergen geschah. Doch jetzt haben wir einander von dem Versprechen entbunden.
     
    Ich bin wach, ja. Es ist noch früh, aber ich sitze schon mit einem doppelten Espresso in der Küche. Ich lese, was du schreibst, sowie es hier eintrifft, den ganzen Tag lang, ich werde die ganze Zeit online sein. Gleich gehe ich mit dem Laptop ins Büro. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich das Haus so früh verlasse, es wird ja gerade erst hell. Berit schläft noch. Ich schreibe ihr einen Zettel, dass ich früh aufgewacht bin und nicht mehr einschlafen konnte. Viel zu tun, schreibe ich.
    Aber jetzt erzähl, ich bin gespannt. Dein Gedächtnis ist besser als meins.
     
    Dort oben in Hemsedal warst du erst sauer, weil wir vielleicht kein Bett für die Nacht mehr finden würden, und plötzlich fiel dir auch noch ein, dass du mich unbedingt haben wolltest. Es war gleich, nachdem wir an der Frau mit dem roten Tuch vorbeigekommen waren. Erst war es nur eine scherzhafte Bemerkung gewesen, unverbindliches Geplänkel, würde ich sagen, aber dann bist du immer frecher und zudringlicher geworden, oder verbindlicher, wie man’s nimmt, jedenfalls musste ich lachen, und dann hast du eine Abfahrt gefunden und bist ein Stück in einen Waldweg am Fluss gebogen. Es war trocken, und ich dachte, du wolltest mit mir ins Heidekraut zwischen den Bäumen. Aber dazu war es zu kalt, und du hattest ganz andere Kunststücke im Sinn. Du Armer! Aus irgendeinem Grund hattest du dich in die Vorstellung von wilden akrobatischen Übungen im Auto verbissen, und zwar so obsessiv, dass du dich von den flackernden Bildern in deinem Kopf nicht mehr befreien konntest. Jedenfalls hast du das behauptet. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch, hast du gesagt. Ich habe dich schief angesehen, und du hast die Augen verdreht und gestanden: Okay, nur ein Mann.
     
    Eine halbe Stunde später waren wir wieder auf der Straße, und du hast das Gaspedal durchgetreten. Noch getragen von der gerade ausgelebten Leidenschaft hatten wir das Gefühl, wie ein Geschoss durch die Luft zu jagen. In die Berge, in die Berge! Wir hatten gesehen, dass wir auf der 52 unterwegs waren, und fanden es witzig, weil wir beide in dem Jahr geboren sind. Jahrgangsstraße, hast du sie genannt. Oder vielleicht war es auch ich.
    Jedenfalls warst du es, der immer hinter dem Lenkrad saß. Ich hatte damals noch keinen Führerschein. Vielleicht war es schon Mitternacht, richtig dunkel wird es um diese Jahreszeit ja nicht. Es war ein warmer Tag gewesen, aber jetzt wares kühl und dunstig, wir waren schließlich im Hochgebirge. Wenn es eine dunkle Herbstnacht gewesen wäre, wären die Umrisse schärfer gewesen und wir hätten im Licht der Autoscheinwerfer klarer gesehen. Jetzt war alles nur dumpfes Blau und matte Dämmerung. Die einzige Ausnahme war ein leuchtender Schimmer über dem fernen Horizont. Ich glaube, ich habe die Lichtverhältnisse noch kommentiert, jedenfalls haben wir an den folgenden Tagen darüber gesprochen.
    Dann erreichen wir die Wasserscheide am Eldrevatn, die zugleich die Bezirksgrenze zwischen Sogn og Fjordane und Buskerud ist. Und plötzlich sehen wir im Zwielicht etwas Rotes, Flatterndes, spüren

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