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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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musst. Meinem Kuss konntest du dich schlecht entziehen. Du hast sofort alles gestanden und warst schrecklich schuldbewusst. Es tat dir echt leid. Du hast mir das Päckchen Zigaretten gegeben, und es ging am selben Abend in den Flammen des Lagerfeuers auf.
     
    Und was sagst du zu dem Erlebnis, das ich ein Jahr später dort oben hatte?
     
    Ich glaube, ich verstehe, was du beschreibst, und vielleicht ist, was du erlebt hast, tatsächlich nicht unvereinbar mit dem, was ich glaube. Denn stofflich gesehen ist natürlich alles eins – mit soliden Wurzeln, die bis zu deinem Urknall zurückreichen. Trotzdem: Sind wir nicht vor allem unvergleichliche Individuen? Sind wir nicht Personen sondergleichen? Das haben wir damals gesagt. Heute sage ich außerdem, dass wir Geistwesen sind.
    Es mag sich komisch anhören, dass sich die Atome und Moleküle, die mein Körper hinterlässt, womöglich in einem Hasen oder einem Bergfuchs wiederfinden. Aber für michist das wirklich nur eine Vorstellung und meinetwegen auch eine komische. Denn ich bin dann nicht mehr da, Steinn! Hörst du? Das war genau der Gedanke, den ich damals nicht ertragen konnte: dass ich nur noch für kurze Zeit ich sein würde. Ich wollte von Dauer sein! Und heute habe ich eine so viel wunderbarere Hoffnung als du, einen so viel wunderbareren Glauben.
    Ich will nicht versuchen, die Bedeutung des schönen Erlebnisses, das du bei der Höhle hattest, kleinzureden. Aber ich habe meine Zweifel daran, wie versöhnt du wirklich mit der pantheistischen Perspektive bist, die du beschwörst, und ich weiß nicht, für wie verlässlich ich dich halten soll, wenn es um die beiden Knöpfe geht, zwischen denen du dich entscheiden musst. Im Traum jedenfalls hast du das genaue Gegenteil getan: Du hast die Zukunft der gesamten Menschheit geopfert, um dir ein paar armselige Stunden Leben mehr zu sichern. Du hast sogar deine beiden Gefährten im Raumschiff umgebracht, damit du ihren Sauerstoff mit verbrauchen und dich ein bisschen länger in deinem Bewusstsein spiegeln könntest.
     
    Aber das war ein Traum. Hast du noch nie im Traum etwas getan, was du in Wirklichkeit niemals tun würdest?
     
    Doch, sicher, und natürlich kenne ich dich als verlässlichen Menschen. Es war übrigens rührend, wie sorgfältig du die Sachen zwischen uns aufgeteilt hast. Du warst großzügig, und ich war froh, dass du wenigstens den VW behalten hast. Ich hatte ja keinen Führerschein. Und die teuren Reparaturen an der Vorderfront hattest du schließlich auch bezahlt.
    Das gläserne Glöckchen steht vor mir auf der Fensterbank,jetzt hebe ich es mit der linken Hand hoch und klingle damit. Hörst du?
     
    Ja! Und ich habe Småland nicht vergessen. Auf dem kleinen Schilfsee schwammen nebeneinander zwei Höckerschwäne. Du hast auf sie gezeigt und gesagt, das seien du und ich, es seien unsere Seelen, die wir dort draußen auf dem spiegelglatten Wasser betrachteten. Weißt du noch? Und ich habe den Arm um dich gelegt und ebenso innig gesagt: Sie sind die Weltseele. Sie wissen es selbst nicht, aber was da draußen schwimmt, ist die Weltseele.
    Ich war immer schon ein Naturromantiker. Das warst du auch. Aber du hast dich außerdem von der Natur bedroht gefühlt.
    Berit schläft. Wirst du heute Abend noch einmal schreiben?
     
    Ich erinnere mich an die Schwäne. Und ich erinnere mich daran, dass wir uns nicht darüber einigen konnten, was sie symbolisierten. Ich werde noch einmal schreiben und es heute Nacht losschicken. Aber mach dir nicht den Stress, wach zu bleiben. Geh schlafen, Steinn, lesen kannst du auch morgen noch.
     
    Kommt nicht in Frage. Wir werden die Nacht zusammen verbringen.
     
    Was schreibst du da? Du hast doch nichts getrunken?
     
    Keine Panik. Oder findest du, dass ich etwas Unschickliches geschrieben habe? Schreib, ich bleibe sicher wach.
     
    Ich will versuchen, mich kurz zu fassen, denn vieles von dem, was ich schreiben werde, kennst du.
    Ich war zehn oder elf, als ich in den Sommerferien bei Großmutter in Kolgrov war und plötzlich eine Schwalbe gegen das Wohnzimmerfenster knallte. Großmutter meinte, wir sollten noch warten, denn manchmal, erklärte sie, könnten Vögel einfach nur ohnmächtig sein, dann kämen sie nach einer Viertel- oder halben Stunde wieder zu sich und flögen weiter. Vögel bekämen manchmal noch ein Leben, ein Leben nach dem Tod, denn dass der Vogel tot sei, sähen wir ja, und trotzdem könne er vielleicht bald wieder fliegen. Aber ein Tag und eine Nacht

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