Die Frau mit dem roten Tuch
Sicherheitsgurt geöffnet und bin ausgestiegen. Steinn, Steinn!, habe ich unter Tränen gerufen. Was hattest du bloß vor? Wolltest du mich zurücklassen? Ich war außer mir. Will er mich umbringen?, schoss es mir durch den Kopf. Um die einzige Zeugin seines Verbrechens zu beseitigen? Einmal hat er vielleicht schongetötet … Dann hast du den Motor aufheulen lassen und bist auf den Abgrund zugerast. Wolltest du Selbstmord begehen? Wieder habe ich gerufen: Steinn! Steinn! Aber du hast das Auto nur gegen einen Felsblock am Rand des Abgrunds gefahren. Du bist aus dem Auto gesprungen und hast zufrieden festgestellt, dass jetzt auch der linke Scheinwerfer zerbrochen war. Dazu war die Stoßstange verbogen.
Warum hast du das gemacht?, habe ich gefragt.
Du hast mich nicht angesehen, aber geantwortet: Wir hatten gerade ein kleines Missgeschick mit dem Wagen, hast du gesagt.
Dann hast du die Glasscherben, die du am Unfallort aufgesammelt hattest, zu den frischen Scherben vor dem Felsblock gelegt. Es war, als würdest du die letzten Stücke eines Puzzles legen.
Es war mitten in der Nacht und kalt. Ich dachte, dass der Motor vielleicht nicht wieder anspringen würde, aber zum Glück war der Wagen noch immer fahrtüchtig. Er klapperte zwar, aber wir waren nun mal müde und unaufmerksam gegen einen Felsblock gefahren, der wahrscheinlich zum Schutz gegen einen Sturz in den Abgrund in die Kurve gelegt worden war.
Wir fuhren hinunter nach Borgund und zuckten zusammen, als plötzlich die alte Stabkirche wie eine makabre Kulisse im diesigen Morgenlicht auftauchte. Noch dazu war sie umgeben von alten Grabsteinen. Vor einem Grabstein brannte eine Kerze und flackerte rötlich in die Dämmerung.
Wir fuhren den Lærdalselv entlang, und je heller es wurde, desto schreckhafter wurden wir. Es war paradox. Als wir Lærdal erreichten, war es fast Tag, aber wir waren uns einig, dass es zu früh und zu spät zugleich sei, eine Unterkunft zu suchen. Wir hatten außerdem auch keine Lust, dort irgendwo mit unserem ramponierten Auto vorzufahren, und so nahmenwir auch noch die zehn Kilometer zum Fähranleger in Revsnes in Angriff. Als wir dort ankamen, sahen wir, dass die erste Fähre erst in einigen Stunden ablegen würde. Wir waren das einzige Auto am Anleger und beschlossen, die Sitze zurückzuklappen, um ein wenig zu schlafen. Aber im Grunde hatten wir resigniert. Wir sagten, dass die Polizei uns finden würde, bevor wir den Fjord überqueren konnten. Es gab keinen anderen Weg, nur die Fähre konnte uns von hier fortbringen. Die Frau war tot und konnte keine Erklärungen mehr abgeben, aber der Fahrer des weißen Lieferwagens hatte nur wenige Minuten, bevor er eine verunglückte Frau am Straßenrand fand, einen roten Käfer mit Skiern auf dem Dach gesehen. Es war vollkommen klar, dass die Polizei jeden Moment eintreffen würde.
Warum war sie bloß mitten in der Nacht dort oben im Gebirge unterwegs gewesen? Dort gab es doch keine Häuser, nicht einmal eine Angel- oder Jagdhütte. Sie war weder so gekleidet noch wirkte sie wie jemand, der auf einer Bergtour war.
Wer war diese Frau? Konnten wir eigentlich sicher sein, dass sie allein unterwegs gewesen war? War sie womöglich mit jemandem zusammen gewesen? Vielleicht war sie in irgendetwas verwickelt. Uns war der große LKW oben in Hemsedal aufgefallen. Vielleicht war hier etwas vor sich gegangen …
Wir waren zu aufgeregt, um schlafen zu können. Aber wir hatten Angst vor dem Licht. Wir hielten die Augen geschlossen und flüsterten wie Kinder, die beieinander übernachten dürfen. Ich hielt es für angebracht, daran zu erinnern, dass wir uns um höchstens zwei Grad auf einem winzigen Planeten bewegt hatten, der ungerührt seine Bahn um eine Sonne zog,und du hast schnell hinzugesetzt, dass auch die Sonne nur einer von hunderttausend Millionen Sternen in der Milchstraße sei. Damit hatten wir die Richtung gefunden, in die wir uns bewegen würden. Was wir erlebt hatten, war nur das Kräuseln einer Welle auf einem Ozean gewesen. Es war alles eine Frage der Perspektive. Wir mussten uns selbst aus dem Fokus nehmen. Und für ein Mal traten mir keine Tränen in die Augen, rief ich nicht verzweifelt, dass wir eines Tages nicht mehr hier sein würden. Nichts davon. Es war kein Platz für Trauer, die Schuld hatte den Platz der Trauer eingenommen, denn jetzt hatten wir womöglich den Tod eines anderen Menschen verursacht. Das war ein so grauenhafter Gedanke, dass ich es nicht wagte, einen
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