Die Frau mit dem roten Tuch
finden nichts. Hat irgendwer das Tuch gefunden und mitgenommen? Oder haben Wind und Wetter es über alle Berge geweht?
Ich weiß nicht mehr, ob wir erleichtert oder enttäuscht sind,als wir immerhin noch einige Glassplitter vom Scheinwerfer finden. Wir haben uns also nicht alles nur eingebildet. Wir haben einen Menschen angefahren, in hohem Tempo. Doch andere Spuren dessen, was geschehen ist, finden wir nicht. Wir sehen keine Blutflecken, und wir finden auch keine Steine oder Klumpen Erde, die das Auto berührt haben könnte.
Schließlich setzten wir uns wieder ins Auto und fuhren weiter. Du hast nur noch einen Kommentar zu dem witzigen Zuckerhut am Ende des Sees abgegeben, als hätte der auch nur das Geringste mit unserem Mysterium zu tun gehabt.
Auf der Fahrt durch Hemsedal sprachen wir dafür ausschließlich von dem, was wir auf der Fahrt in die Gegenrichtung erlebt hatten. Ich glaube, du hast sogar damit angefangen, ziemlich genau an der Stelle, wo du auf der Hinfahrt in den Waldweg abgebogen warst, nachdem du schon eine Weile den unwiderstehlichen Verführer gegeben hattest. Über die Eskapade selbst konnten wir allerdings schon nicht mehr sprechen, beide nicht. Wir trafen eine Abmachung. Wir sagten: Wir können noch auf der ganzen Fahrt nach Hause über diesen schrecklichen Unfall sprechen, aber sobald wir wieder in Kringsjå sind, ist Schluss damit. Wir werden nie wieder darüber sprechen, nicht miteinander und auch nicht mit anderen. Und so haben wir es gehalten, seit wir in Oslo eingetroffen waren. Was beim Eldrevatn passiert war, war von da an immer nur das . Erst jetzt breche ich diesen alten Pakt, und ich glaube nicht, dass uns das neues Unglück bringt. Ich hoffe auf das genaue Gegenteil. Deshalb schreibe ich.
Das rote Tuch lag nicht mehr dort, es wäre auch verwunderlich gewesen nach der Zeit, die inzwischen vergangen war. Aber erst jetzt hatten wir es mit eigenen Augen gesehen, und im tiefsten Herzen war ich ein wenig enttäuscht. Dennwenn wir es gefunden hätten, und sei es von Tieren in Fetzen gerissen, dann wäre das ein Indiz dafür gewesen, dass die Frau, der wir in dem Birkenwäldchen begegnet waren, kein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen sein konnte, sondern nur ein Geist, der sich uns gezeigt hatte, sonst hätten wir es ja mit zwei Tüchern zu tun gehabt, einem, das der verunglückten Frau gehört hatte, und einem, das noch immer um die Schultern der Preiselbeerfrau lag.
Da der entsetzliche Unfall nie in den Nachrichten erwähnt wurde, waren wir uns mehr oder weniger einig, dass der Fahrer des weißen Lieferwagens sich um die Frau gekümmert haben musste. Nicht einig waren wir uns darüber, in welchem Zustand sie sich zu diesem Zeitpunkt befunden haben mochte. Dass wir ihr in dem Birkenwäldchen wiederbegegnet waren, war für dich zum Indiz dafür geworden, dass sie nur unbedeutende Verletzungen davongetragen hatte. Für mich dagegen war es der Beweis für das genaue Gegenteil, dafür nämlich, dass ihre Verletzungen tatsächlich tödlich gewesen waren – und eben: dass es auf der anderen Seite etwas gibt, Steinn! Du meintest, sie sei nach ihrem Sturz vielleicht gleich wieder aufgestanden und dann mit dem weißen Lieferwagen per Anhalter gefahren, du hattest es dir in den Kopf gesetzt, dass sie wieder nach Hemsedal hinunterwollte und dass sie etwas mit dem ausländischen LKW zu tun hatte. Das wäre in der Tat eine plausible Erklärung dafür gewesen, warum wir in den Nachrichten nichts über den Unfall gehört hatten. Ich meinerseits war überzeugt, dass die Frau mit dem roten Tuch entweder tödlich verletzt oder schon tot in dem Lieferwagen fortgebracht worden war. Dennoch gab es etwas, vorüber wir uns einigen konnten: Nur eine Woche, nachdem wir die Frau mit dem roten Tuch angefahren hatten, war sie bei bester Gesundheit gewesen. Nur meintest du, hier, in dieser Welt, und ich meinte, dort, wo sie sich jetzt befand.
Wir diskutierten Zeit und Uhrzeit. Wenn wir sie nur gestreift hatten, war es keine übereilte Schlussfolgerung, sie mit dem Lieferwagen in Verbindung zu bringen, sagtest du. Vielleicht ist sie einfach weitergegangen. Und warum hätte der Fahrer des weißen Lieferwagens der Polizei mitteilen sollen, dass er eine Frau mittleren Alters gesehen hatte, die auf einem Weg entlang der 52 zu Fuß unterwegs war?
Ich sagte: Aber wir haben sie doch nicht mehr gesehen, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Auch wenn wir sie nur gestreift hätten, müsste sie doch so
Weitere Kostenlose Bücher