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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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war ich dazu nicht fähig.
    Erzähl bitte weiter. Ich finde, du hältst dich an das, was unsere Geschichte war.
     
    Nachdem ich schon fast den ganzen Vormittag auf den neun Büroquadratmetern hin und her gelaufen bin, werde ich immer noch rastloser und unruhiger. Ich habe das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Es ist zwölf Uhr, und ich habe einen Beschluss gefasst.
    Schreib bitte noch die letzten Kapitel. Ich ahne, wie sie ausfallen werden, denn wir haben ja damals, ehe du einen Schlussstrich gezogen hast und nach Bergen gegangen bist, immer wieder darüber gesprochen. Ich antworte dir, bevor der Tag zu Ende ist, das verspreche ich.
     
    Als wir die Berghütte erreicht hatten, einigten wir uns darauf, die endgültige Deutung des Ereignisses so lange wie möglich hinauszuschieben. Am nächsten Tag würden wir die lange Fahrt nach Hause antreten, wir würden an den Ort des Unglücks zurückkehren – sollten wir uns da für den Augenblick nicht an das halten, was wir tatsächlich erlebt hatten? Noch hatten wir ja alles in frischer Erinnerung.
    Wir waren uns darüber einig, dass ich in die Hocke gegangen war und die leuchtend roten Blüten des Fingerhuts angefasst hatte. Dann warst du hinter mich getreten und hattest zuerst meine Haare berührt, warst dann aber ebenfalls in die Hocke gegangen, um die Blüten anzufassen. Ich konnte mich nicht erinnern, ob wir von der anderen Seite des Weges her etwas gehört hatten, jedenfalls war da plötzlich etwas gewesen, das uns herumfahren ließ. – Und im selben Augenblick wird dem Raum zwischen den Birkenstämmen eine Frauengestalt eingeprägt. Sie trägt das rote Tuch um die Schultern und steht im Moos wie eine »Preiselbeerfrau im Märchen«. Das waren meine Worte. Ich habe damals den Begriff »Preiselbeerfrau« für sie eingeführt, und er wurde uns ein rhetorisches Hilfsmittel, ein verbaler Rettungsring für zwei Seelen in Not. Wir konnten noch viele Tage lang über die Preiselbeerfrau reden, und nun stellt es sich heraus, dass wir es mehr als dreißig Jahre später immer noch können. Wir hätten damals nur nicht soleicht über eine Begegnung mit einem Spuk oder einer Erscheinung sprechen können, oder mit einem Geist, der sich uns offenbarte. Es war Mitte der siebziger Jahre, ich will dich noch einmal daran erinnern. Es war nur wenige Tage, nachdem Ulrike Meinhof in Stammheim tot aufgefunden worden war, und das Jahr, als in Norwegen Romane mit Titeln wie »Jenny ist gefeuert«, »Nicht aufgeben«, »In deine Zeit hinein«, »Der Anschlag«, »Der Feldzug« oder »Graffiti« erschienen. Dabei behaupteten manche, wir seien auf dem Weg in eine neue Ära, hätten einen Wendepunkt erreicht und stünden an der Schwelle zum »Zeitalter des Wassermanns«.
    Von deinem materialistischen Standpunkt aus – und gegen meine eben aufkeimende spiritualistische Orientierung – hast du in deinem fieberhaften Ringen um eine Erklärung eine witzige Theorie entwickelt. Wie gesagt, wir waren uns einig, dass die Preiselbeerfrau identisch war mit der Frau auf dem Hemsedalsfjell. Doch dann hattest du einen Geistesblitz: Versuch, das Ganze mal wie einen Film zu sehen oder wie einen Kriminalroman zu lesen, hast du gesagt. Ich war gespannt, was jetzt kommen würde, und es kam: Vielleicht war die Frau, die wir im Birkenwäldchen getroffen haben, der eineiige Zwilling der anderen …
    Vielleicht konnte Jesus auf dem Wasser wandeln, weil der See Genezareth sich mit Eis überzogen hatte!
     
    Als wir auf dem Rückweg zum Hotel wieder an der Stelle vorbei mussten, gingen wir Hand in Hand. Wir gingen schnell, aber wir hatten uns versprochen, nicht in Panik zu geraten. Es ist dir gelungen, nicht loszurennen, aber den Preis dafür musste ich bezahlen: Du hast meine Hand so fest gedrückt, dass es höllisch wehgetan hat. Ich erinnere mich noch an den Wein, den wir zum Essen getrunken haben. Den brauchten wir, wir tranken eine Flasche und dann noch einehalbe, aber ich weiß auch noch, dass ich fast das Glas nicht halten konnte, weil du alle Kraft aus meiner Hand gepresst hattest.
    Ich erinnere mich an diese Nacht, Steinn. Diesmal versuchte ich, dich zu verführen. Ich war sehr direkt. Wenn ich es jetzt nicht schaffte, würden wir nie wieder zueinander zurückfinden. Ich habe es nach allen Regeln der Kunst versucht, und noch wenige Stunden zuvor hätte ich es wahrscheinlich geschafft, dass dir vor Lust schwindlig geworden wäre und du alles andere darüber vergessen hättest. Aber du hast dich nicht

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