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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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absolut einer Meinung über das, was wir sehen. Das Seltsame ist nur, dass wir uns nicht darüber einigen können, was sie gesagt hat. – Es war wirklich seltsam, und damals haben wir uns sehr darüber gewundert. Heute habe ich auch dafür eine Erklärung.
    Denn was hat sie gesagt? Ich erinnere mich glasklar daran, dass sie sich an mich wandte und sagte: Du bist die, die ich war, und ich bin die, die du wirst. Du dagegen hast darauf bestanden, dass sie etwas ganz anderes gesagt hat. Seltsam, wo wir uns problemlos darüber einigen konnten, dass wir dasselbe gesehen hatten, findest du nicht? Aber du hast hartnäckig darauf bestanden, dass sie sich an dich gewandt und gesagt hat: Du hättest ein Knöllchen kriegen müssen, mein Junge.
    Ich meine: Phonetisch ähneln die beiden Sätze einander ja nicht gerade wie ein Ei dem anderen. Und ich behaupte: semantisch oder inhaltlich ebenso wenig. »Du bist die, die ich war, und ich bin die, die du wirst.« Oder: »Du hättest ein Knöllchen kriegen müssen, mein Junge.« Bei dir sind also die einen Wörter angekommen und bei mir die anderen. Aber warum hätte sie uns eine doppelte Nachricht übermitteln sollen? Und wie ist ihr dieses Kunststück gelungen? Zwei große Rätsel. Aber warte …
     
    Heute bin ich mir sicher, dass »die ältere Frau mit dem roten Tuch« dieselbe war, die wir angefahren und getötet hatten, und dass sie von der anderen Seite her zu uns gekommen war. Um uns zu trösten! Sie lächelte, und ich möchte zwar nicht behaupten, es sei ein warmes Lächeln gewesen – »Wärme« und »Kälte« sind vielleicht doch eher etwas Fleischliches – , aber auf keinen Fall war es ein böses Lächeln. Verspielt, vielsagend und schelmisch war es. Nein, verlockend, Steinn. Komm, komm, komm!, sagte dieses Lächeln. Es gibt keinen Tod. Komm einfach, komm, komm! Dann hat sie sich aufgelöst und war verschwunden.
    Du bist neben dem Weg auf die Knie gefallen, hast die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint. Du wolltest mir nicht in die Augen sehen, und ich habe mich über dich gebeugt und dich wieder gewiegt.
    Steinn, habe ich gesagt, sie ist nicht mehr da.
    Aber du hast nur immer weiter geschluchzt. Ich hatte selbst entsetzliche Angst, denn damals glaubte ich noch an nichts, aber es hat mir geholfen, dass ich mich um einen verstörten jungen Mann kümmern musste.
    Und plötzlich bist du aufgesprungen und weiter talaufwärts gelaufen. Du bist gelaufen, als ginge es um dein Leben, und ich habe versucht, mit dir Schritt zu halten. Du durftest mir nicht weglaufen. Irgendwann gingen wir dann wieder nebeneinander, und nach einer Weile sprachen wir sogar über das, was wir erlebt hatten. Wir waren beide gleich erregt.
     
    Wir hatten noch nicht unsere Standpunkte bezogen. Wir fragten einander aus, wendeten die Dinge hin und her, wägten ab. Einig waren wir uns, dass es sich bei der Frau, die wir im Birkenwäldchen gesehen hatten, um dieselbe Frau handelte, die wir auf dem Hemsedalsfjell gesehen hatten. Die wir später angefahren und getötet hatten, wie ich meinte,denn das stand für mich jetzt fest, da sah ich keinen Raum für Zweifel mehr. Du dagegen hast umso entschiedener darauf bestanden, dass sie nicht nur überlebt haben musste, sondern sich offenbar auch bester Gesundheit erfreute.
    Wie hat sie uns überhaupt finden können?, hast du gefragt. Du hattest Angst, dass sie uns verfolgte, auch jetzt noch, in diesem Augenblick. Du dachtest, sie hätte sich vielleicht im Hotel einquartiert, und hattest Angst, sie beim Abendessen wiederzusehen. So hast du es geschafft, dich mit deinen Ängsten und Sorgen immer weiter auf festen materialistischen Boden zurückzuziehen. Ich habe keine Sekunde geglaubt, dass sie im Hotel ein Zimmer hatte oder dass wir sie beim Abendessen wiedersehen würden. Ich sagte: Sie ist tot, Steinn. Und du hast mich nur abschätzig angesehen. Ich sagte: Vielleicht ist sie uns nicht nach gegangen. Vielleicht ist sie auf uns zu gegangen. Von der anderen Seite her, Steinn. Du hast mich nur angestarrt. Aber in deinem Blick lag keine Kraft. Nur Ohnmacht.
     
    Ja, es war Ohnmacht. Denn ich wusste jetzt, dass wir beide auseinanderdrifteten. Ich konnte nicht glauben, dass die Toten uns aufsuchen können. Dass sie überhaupt an irgendeinem Ort existieren. Ich konnte es damals nicht und kann es heute nicht. Du konntest das, und heute kann ich deine Meinung respektieren, irgendetwas ist also in über dreißig Jahren mit mir geschehen. Aber du hast recht, damals

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