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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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gerührt. Weil du so traurig warst, deinetwegen und damit auch meinetwegen, denn auch du musst an die Zukunft gedacht haben. Außerdem warst du ziemlich betrunken. Nach dem Wein zum Essen und dem obligatorischen Calvados hatten wir auch noch eine Flasche Weißwein mit aufs Zimmer genommen, von der ich keinen Tropfen getrunken hatte. Weißt du noch, wie alles geendet hat? Du hast dich verkehrt herum ins Bett gelegt, mit dem Kopf neben meine Füße. Einmal wollte ich dir mit dem Fuß die Wange streicheln, aber du hast ihn weggeschoben, nicht hart und böse, aber energisch. In den ersten Stunden fanden wir beide keinen Schlaf. Wir lagen wach, wussten, dass wir wach lagen, und versuchten uns schlafend zu stellen. Irgendwann schliefen wir dann ein, du jedenfalls, mit dem vielen Alkohol im Blut hast du dich wahrscheinlich nicht länger wachhalten können.
    Ich habe es bitter bereut, mich dir nicht oben im Erlengestrüpp hingegeben zu haben, bevor wir der Preiselbeerfrau begegnet waren. Ich wusste, dass wir einander wohl verlieren würden, und du fehltest mir schon jetzt.
    Wenn zwei Menschen sich im selben Bett nacheinander sehnen, kann das intensiver sein und mehr wehtun als eine Sehnsucht über Erdteile hinweg.
     
    Das Märchen war zu Ende. Auf der Fähre über den Fjord sprachen wir freundlich miteinander. Wir tranken Kaffee und aßen süßen Kuchen. Mit Skiern und Rucksäcken gingen wir in Hella von Bord der M/S Nerøy , und unser Wagen stand noch genauso, wie wir ihn verlassen hatten, fast war es, als ob er sich vernachlässigt gefühlt und nach uns gesehnt hätte. Arme Scheinwerfer, arme Stoßstange, dachte ich und habe ich, glaube ich, auch gesagt. Auch du hattest wenigstens noch Galgenhumor und eine passende Bemerkung parat. Im Gegenzug sozusagen. Dann fuhren wir.
    Was würden wir dort oben im Gebirge finden? Was hatten wir übersehen, als wir die Stelle zuletzt verlassen hatten? Hatten wir eigentlich systematisch nach Spuren von Blut gesucht? Oder von Haut und Haaren?
    Aber wir sprachen längst nicht nur darüber. Bedenkt man die Umstände, hatten wir sogar eine recht angenehme Heimfahrt. Vielleicht lag es daran, dass wir wussten, dass es unsere endgültig letzte gemeinsame Autofahrt sein würde. Wir nahmen eine Art postsymbiotische Rücksicht aufeinander. Eine spontane, den Puls in die Höhe jagende Abfahrt zu einem neuen Liebesnest war von nun an ausgeschlossen. Aber wir gingen freundlich miteinander um. Wir waren höflich und rücksichtsvoll.
    Erst mussten wir über den Fjord, dann erreichten wir wieder Lærdal, den Fluss und die Stabkirche. Ich hatte einen kleinen Zusammenbruch, als wir an der Kurve und dem Abgrund vorüberkamen, wo ich eine Woche zuvor geglaubt hatte, du wolltest mich umbringen oder Selbstmord begehen. Du hast die Hand vom Lenkrad genommen und mich an dich gedrückt. Das hat gewärmt. Und dann waren wir wieder oben im Hochgebirge.
     
    Und ich bin unterwegs in die andere Richtung. Ich bin in Gol, in Pers Hotell, aber nur um ihren Internetanschluss zu benutzen. Ich habe deine letzte Mail gelesen und antworte von hier aus.
    Ich werde allerdings schon misstrauisch beäugt, und es ist nur eine Frage der Zeit, dass sie mich darauf ansprechen, dass ich kein Gast bin. Früher hat man sich ins Hotel geschlichen, um die Toilette zu benutzen, heutzutage will man ins Internet.
    Ich musste dieses Gebirge wieder überqueren. Aber mach bitte weiter. Dir bleiben vier oder fünf Stunden, bis ich wieder Netzzugang habe. Dann aus dem anderen Hotel. Ich habe mich telefonisch angemeldet, aber die Saison geht zu Ende, und ich werde möglicherweise der einzige Gast dort sein.
     
    Willst du nach Fjærland, Steinn? Dann können wir uns in Hemsedal zuwinken. Irgendwo dort werden wir aneinander vorbeifahren, dann liegen nur ein knapper Meter und ein Menschenalter zwischen uns …
     
    Wir sehen die spiegelglatte, kalte Oberfläche des Eldrevatn, und ich merke, dass du wieder an Händen und Füßen zitterst. Doch dann sind wir da. Du fährst den Wagen an den Straßenrand, wir steigen beide aus und sind einander immer noch ungeheuer wichtig, aber Trauer, Reue und Verbitterung über das, was geschehen ist, haben das erotische Band zwischen uns zum Zerreißen zerschlissen. Du schreist ein paar Flüche heraus, du bist vulgär. Ich habe gar nicht gewusst, dass du über so ein Vokabular verfügst. Ich weine nur.
    Aber das rote Tuch ist verschwunden. Wir suchen im weiten Umkreis nach der ins Auge stechenden Farbe, aber wir

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