Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Gesellschaft vielfach als eine Anomalie. Sie führte das Stücklohnsystem ein, durch das sich die Arbeiter gegenseitig zum Überarbeiten zwingen, damit der Unternehmer um so leichter die Unterbezahlung, die Herabsetzung der Löhne vornehmen kann. Wie mit der materiellen Arbeitsleistung, ist es mit der geistigen bestellt. Der Mensch ist das Produkt von Zeit und Umständen, in denen er lebt. Ein Goethe, unter gleich günstigen Entwicklungsbedingungen im vierten statt im achtzehnten Jahrhundert geboren, wäre wahrscheinlich statt ein berühmter Dichter und Naturforscher ein großer Kirchenvater geworden, der vielleicht St. Augustin in den Schatten stellte. Wäre dagegen Goethe statt als Sohn eines reichen Frankfurter Patriziers als Sohn eines armen Schusters in Frankfurt zur Welt gekommen, er wäre kaum großherzoglich weimarischer Minister geworden, sondern wäre höchstwahrscheinlich ein Schuster geblieben und als ehrsamer Schustermeister gestorben. Goethe selbst anerkannte den Vorteil, den es für ihn hatte, daß er in materiell und gesellschaftlich günstiger Stellung geboren worden war und dadurch zu seiner Entwicklung gelangte; so in seinem "Wilhelm Meister". Wäre Napoleon I. zehn Jahre später geboren worden, er konnte nie Kaiser von Frankreich werden. Auch wäre ohne den Krieg von 1870/71 Gambetta nie geworden, was er geworden ist. Setzt das gut veranlagte Kind intelligenter Eltern unter Wilde, und es wird ein Wilder. Was also einer ist, das hat die Gesellschaft aus ihm gemacht . Die Ideen sind nicht ein Produkt, das durch höhere Inspiration von oben in dem Kopfe eines einzelnen entspringt, sondern ein Produkt, das durch das gesellschaftliche Leben und Weben, in dem er sich bewegt, den " Zeitgeist ", im Kopfe des einzelnen erzeugt wird. Ein Aristoteles konnte nicht die Ideen eines Darwin haben, und ein Darwin mußte anders denken als ein Aristoteles. Jeder denkt, wie der Geist der Zeit, das heißt seine Umgebung und ihre Erscheinungen ihn zu denken zwingen. Daher die Wahrnehmung, daß oft verschiedene Menschen gleichzeitig ein und dasselbe denken, daß gleichzeitig ein und dieselben Erfindungen oder Entdeckungen auf weit voneinander liegenden Punkten gemacht werden. Daher auch die Tatsache, daß eine Idee, die fünfzig Jahre früher ausgesprochen, die Welt kalt ließ, aber fünfzig Jahre später wiederholt, die ganze Welt in Bewegung setzt. Kaiser Sigismund konnte 1415 wagen, Hus sein Wort zu brechen und in Konstanz ihn verbrennen zu lassen; Karl V., obgleich ein weit größerer Fanatiker, mußte 1521 Luther vom Reichstag zu Worms seines Weges ziehen lassen. Die Ideen sind das Produkt gesellschaftlichen Zusammenwirkens, gesellschaftlichen Lebens. Und was von der Gesellschaft im allgemeinen gilt, gilt im besonderen von den verschiedensten Klassen, aus welchen eine Gesellschaft in einer bestimmten geschichtlichen Epoche zusammengesetzt ist. Weil jede Klasse ihre besonderen Interessen hat, besitzt sie auch ihre besonderen Ideen und Anschauungen, die zu jenen Klassenkämpfen führen, von welchen die geschichtlich bekannten Zeitalter der Menschen erfüllt sind und die in den Klassengegensätzen und Klassenkämpfen der Gegenwart ihren Höhepunkt erreichten. Es kommt also nicht allein darauf an, in welchem Zeitalter jemand lebt, sondern auch in welcher Gesellschaftsschicht eines bestimmten Zeitalters er lebt, wodurch sein Fühlen, Denken und Handeln bestimmt wird.
Ohne die moderne Gesellschaft existieren keine modernen Ideen. Das scheint uns klar und einleuchtend. Für die neue Gesellschaft kommt hinzu, daß die Mittel, die jeder für seine Ausbildung in Anspruch nimmt, das Eigentum der Gesellschaft sind . Die Gesellschaft kann also nicht verpflichtet sein, das besonders zu honorieren, was sie erst möglich gemacht hat und was ihr eigenes Produkt ist.
Soviel über die Qualifikation physischer und geistiger Arbeit. Hieraus ergibt sich weiter, daß auch kein Unterschied zwischen höherer und niederer Arbeit bestehen kann, wie zum Beispiel nicht selten heute ein Mechaniker sich mehr dünkt als ein Tagarbeiter, der Straßenarbeiten und dergleichen verrichtet. Die Gesellschaft läßt nur gesellschaftlich nützliche Arbeiten verrichten, und so ist jede Arbeit für die Gesellschaft gleichwertig. Können unangenehme, widerliche Arbeiten nicht auf mechanischem respektive chemischem Wege verrichtet und durch irgendwelchen Prozeß in angenehme Arbeiten umgewandelt werden – was bei den Fortschritten, die wir auf
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