Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
volle Gesundheit beider hängt auf das innigste zusammen. Eine Störung in dem einen muß auch störend auf den anderen Teil wirken. Die sogenannten tierischen Bedürfnisse nehmen keine andere Stufe ein wie die sogenannten geistigen. Die einen und die anderen sind Wirkung desselben Organismus und sind die einen von den anderen beeinflußt. Das gilt für den Mann wie für die Frau.
Daraus folgt, daß die Kenntnis der Eigenschaften der Geschlechtsorgane ebenso notwendig ist wie die aller anderen Organe, und der Mensch ihrer Pflege die gleiche Sorge angedeihen lassen muß. Er muß wissen, daß Organe und Triebe, die jedem Menschen eingepflanzt sind und einen sehr wesentlichen Teil seiner Natur ausmachen, ja in gewissen Lebensperioden ihn vollständig beherrschen, nicht Gegenstand der Geheimnistuerei, falscher Scham und kompletter Unwissenheit sein dürfen. Daraus folgt weiter, daß Kenntnis und Physiologie und Anatomie der verschiedenen Organe und ihrer Funktionen bei Männern und Frauen ebenso verbreitet sein sollte als irgendein anderer Zweig menschlichen Wissens. Ausgestattet mit einer genauen Kenntnis seiner physischen Natur, wird der Mensch viele Lebensverhältnisse mit anderen Augen ansehen. Es würde die Beseitigung von Übelständen sich von selbst aufdrängen, an denen gegenwärtig die Gesellschaft schweigend in heiliger Scheu vorübergeht, die aber fast in jeder Familie sich Beachtung erzwingen. In allen sonstigen Dingen gilt Wissen für eine Tugend, als das erstrebenswerteste, menschlich schönste Ziel, aber nur nicht Wissen in den Dingen, die mit dem Wesen und der Gesundheit unseres eigenen Ichs und mit der Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung in engster Beziehung stehen.
Kant sagt: "Mann und Frau bilden erst zusammen den vollen und ganzen Menschen, ein Geschlecht ergänzt das andere." Schopenhauer erklärt: "Der Geschlechtstrieb ist die vollkommenste Äußerung des Willens zum Leben, mithin Konzentration alles Wollens." "... Die Bejahung des Willens zum Leben konzentriert sich im Zeugungsakt, und dieser ist ihr entschiedenster Ausdruck." Und lange vor diesen äußerte Buddha : "Der Geschlechtstrieb ist schärfer als der Haken, womit man wilde Elefanten zähmt; er ist heißer als Flammen, er ist wie ein Pfeil, der in den Geist des Menschen getrieben wird. "
Bei solcher Intensität des Geschlechtstriebs darf es nicht verwundern, daß geschlechtliche Enthaltsamkeit im reifen Alter nicht selten bei dem einen wie bei dem anderen Geschlecht derart auf das Nervenleben und den ganzen Organismus einwirkt, daß sie zu schweren Störungen und Verirrungen, unter Umständen zu Wahnsinn und zum Selbstmord führt. Allerdings macht sich der Geschlechtstrieb nicht bei allen Naturen gleich heftig geltend: es kann auch viel zu seiner Zügelung geschehen durch Erziehung und Selbstbeherrschung, namentlich durch Vermeidung des Anreizes dazu infolge von entsprechender Unterhaltung, Lektüre, Alkoholismus und dergleichen. Im allgemeinen soll der Reiz sich weniger bei Frauen als bei Männern bemerkbar machen, ja sogar manchmal bei Frauen ein gewisser Widerwille gegen den Geschlechtsakt bestehen. Aber das ist eine kleine Minderzahl, bei der physiologische und psychologische Anlagen diesen Zustand herbeiführen.
Man darf also sagen, daß in dem Maße, wie die Triebe und Lebensäußerungen bei den Geschlechtern sich ausprägen, sowohl in organischer als in seelischer Ausbildung und in Form und Charakter zum Ausdruck kommen, um so vollkommener ist der Mensch, sei er Mann oder Frau. Jedes Geschlecht ist zur höchsten Vollendung seiner selbst gekommen. "Bei dem sittlichen Menschen", sagt Klencke in seiner Schrift "Das Weib als Gattin", "ist allerdings der Zwang des Gattungslebens unter die Leitung des von der Vernunft diktierten sittlichen Prinzips gestellt, aber es wäre selbst der höchstmöglichsten Freiheit nicht möglich, die zwingende Mahnung der Gattungserhaltung, welche die Natur in den normalen organischen Ausdruck beider Geschlechter legte, gänzlich zum Schweigen zu bringen, und wo gesunde männliche oder weibliche Individuen dieser Pflicht gegen die Natur zeitlebens nicht nachkommen, da war es nicht der freie Entschluß des Widerstandes , auch wo er als solcher ausgegeben oder in Selbsttäuschung als Willensfreiheit bezeichnet werden sollte, sondern die Folge sozialer Hemmungen und Folgerungen, die das Naturrecht schmälerten und die Organe verwelken ließen, aber auch dem Gesamtorganismus den
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