Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
in
Houston, Texas – wo sonst – die Sache entschieden. Aus Mangel an Beweisen, wie
es ebenso schön wie kurz hieß, wurde gerichtlich beschlossen, dass die Landung
niemals stattgefunden hatte. Ich denke noch oft daran, an die nette Geschichte,
wie sie mir John McDonnel erzählt hat, auf dem Flug zur Feier der Marskolonie. Doch
Gericht hin, Urteil her, möchte ich auch heute nicht ausschließen, dass es
nicht trotz allem passiert sein könnte, und da stehe ich mit meiner Ansicht bei
weitem nicht allein auf dieser weiten Flur, die die Wirklichkeit mit dem Reich unserer
Wünsche, Träume und Sehnsüchte verbindet. Seitdem gehen die Spekulationen nach
wie vor mit ungezügeltem Enthusiasmus weiter.
Heute, vierzig Jahre nach dem
25-Jahr-Jubiläum der ersten Marslandung – also fünfundsechzig Jahre nach Karens
Marslandung – sitze ich da, schaue nach draußen, wo sich wieder ein Sturm
zusammenzubrauen beginnt. Das wird vermutlich wieder eine Angelegenheit von
mehreren Wochen werden, so dick, wie er heranwalzt. Ich lebe heute noch auf der
ersten Marsbasis, in ›Noctis‹, wie sie heute heißt. Sie wurde vor neunundzwanzig
Jahren zur Stadt erhoben; aufgrund der ständig steigenden Einwohnerzahl hatte
man sich dazu entschlossen. Heute leben ungefähr fünftausend Menschen hier und
es gibt noch drei weitere Ansiedlungen, die alle im Umkreis von fünfunddreißig
Meilen liegen. Wir sind gerade dabei, die Siedlungen mit einer Hochgeschwindigkeitsbahn
zu verbinden, doch das Unterfangen gestaltet sich zusehends schwieriger. Die Auswanderung
von der Erde bzw. die Besiedelung des Mars konnte man bis 2120 – ohne Übertreibung
–als gescheitert ansehen. Erst vor ungefähr zehn Jahren wurden von den
Regierungen der Welt die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt, um größere
Schiffe und neue Marssiedlungen bauen zu können. Mit einer komplett
umstrukturierten Logistik gelang es dann endlich, sowohl mehr Menschen als auch
mehr Material auf den Mars zu bringen. Plötzlich stand auch Geld für das lange
geforderte Terraformungsprojekt zur Verfügung. Fünf Milliarden Menschen auf der
Erde mehr, als diese zu ernähren imstande war, sind ein Druckmittel, das man
nicht mehr einfach wegdiskutieren konnte. Aber ich beginne mich in Details zu
verlieren.
Es muss kurz nachdem John McDonnel wieder auf der Erde
eingetroffen war, gewesen sein, als ich eine Nachricht von ihm bekam. Sie war
nett formuliert und er erklärte darin, welch tiefes Vertrauen er in mich als
Journalist hätte, und dass er wisse, das ich mit der Information, die er mir
zukommen lasse, das Richtige tun werde. Welche Information, werden Sie nun
fragen, und ich antworte darauf, Sie werden es nicht glauben. Lamin, der
Schiffsarzt, hatte Karen ja auf dem Heimflug vom Mars dazu verdonnert, Tagebuch
zu schreiben, um Geschehenes zu verarbeiten und um ihre Gefühle loszuwerden,
ehe sie sich auf der Erde in therapeutische Behandlung begeben konnte. Ja,
absolut richtig. Karens Vater hat mir genau diese persönlichen Aufzeichnungen
zukommen lassen aus einer Zeit, in der es ihr wirklich schlecht ging. Sie
können sich kaum vorstellen, wie miserabel ich mich beim Durcharbeiten der
Unterlagen fühlte. Es war, als würde ich jede einzelne ihrer unzähligen
negativen, zum Teil auch zerstörerischen Emotionen selbst durchleben. Mein
Bild, das ich während meiner Reise zum Mars aufgrund der Erzählungen des Alten
von Karen gewonnen hatte, sollte sich dramatisch ändern. Ursprünglich hatte ich
vor, eine Biografie über die erste Frau am Mars zu schreiben, doch diesen Plan
stellte ich fürs erste einmal aufs Abstellgleis. Wie würde die Öffentlichkeit
auf diese ›neue‹ Karen reagieren, wenn sie erführe, was sich damals wirklich abgespielt
hat; in ihren Gedanken, in ihren Gefühlen? (Ich fand auch in den Aufzeichnungen
immer wieder den Satz: »Wenn es die Medien nicht wissen, ist es nicht passiert.«
Dabei immer wieder Andeutungen auf ihren Vater. War er es gewesen, der diesen Satz
irgendwann einmal in das Gehirn seiner teils karrieresüchtigen, teils hochsensiblen
Tochter eingepflanzt hatte?) Dann, als McDonnel starb, hatte ich ein schlechtes
Gewissen ihm gegenüber, da ich der Meinung war, er hatte mir diese Unterlagen
sicher nicht zum Zeitvertreib zugeschickt oder damit sie in meiner Lade oder meinem
Archiv vergammeln. Also kramte ich die Idee einer Biografie wieder hervor. Damals
wohnten zwei Seelen in meiner Brust, wie schon Henry David Thoreau gesagt hatte,
als er nicht
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