Die Frauen der Calhouns 03 - Lilah
sich auf.
Der Erdboden war so unruhig wie ein Schiffsdeck, wie er feststellte. »Ich glaube, für heute ist es genug.«
Neugierig blickte sie zu ihm auf. »Warum?«
»Weil …« Weil er sie berühren musste, wenn er sie noch einmal küsste. Und wenn er sie berührte – und er sehnte sich verzweifelt danach –, musste er sie lieben, hier auf der sonnigen Wiese, die vom Haus gut einzusehen war. »Weil ich Sie nicht ausnutzen will.«
»Mich ausnutzen?« Gerührt lächelte sie. »Das ist sehr süß.«
»Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie es nicht so klingen ließen, als wäre ich ein Narr«, sagte er gepresst.
»Habe ich das getan?« Ihr Lächeln wurde nachdenklich. »Dass Sie ein süßer Mann sind, macht Sie nicht zum Narren, Max. Es ist nur so, dass die meisten Männer, die ich kenne, mich sehr gern ausnutzen würden. Lassen Sie uns hineingehen, bevor Sie beleidigt sind. Ich zeige Ihnen Biancas Turm.«
Er war bereits beleidigt und wollte es schon sagen, als ihre letzten Worte eine Saite in ihm berührten. »Biancas Turm?«
»Ja. Den möchte ich Ihnen zeigen.« Sie hob eine Hand und wartete.
Er sah sie stirnrunzelnd an, während er versuchte, den Namen ›Bianca‹ in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Kopfschüttelnd half er ihr endlich auf die Beine. »Schön, gehen wir.«
Max hatte bereits einen Teil des Hauses erforscht, ein Gewirr von Räumen, von denen einige leer, andere mit Möbeln und Kisten und Kartons vollgestellt waren. Von außen war das Haus teils Burg, teils Herrenhaus, mit blinkenden Fenstern und schmucken Veranden, die mit hervorspringenden Türmchen und Wandelgängen verbunden waren. Innen war das Haus ein weitläufiges Labyrinth von dunklen Korridoren, sonnendurchfluteten Zimmern, verschrammten Fußböden und geschnitzten Geländern. Es hatte ihn gefangen genommen.
Lilah führte ihn eine Wendeltreppe zu einer Tür hoch oben im Ostflügel hinauf.
»Drücken Sie dagegen, Max, ja?«, forderte sie ihn auf, und er musste mit seiner gesunden Schulter fest gegen das Holz stoßen. »Ich wollte Sloan schon ein paar Mal bitten, das in Ordnung zu bringen.« Sie ergriff seine Hand und trat ein.
Es war ein großer kreisrunder Raum, ringsum mit gewölbten Fenstern. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Fußboden, aber jemand hatte bunte Kissen auf den Fenstersitz geworfen. Eine alte Stehlampe mit einem fleckigen, mit Fransen verziertem Schirm stand daneben.
»Ich stelle mir vor, dass sie einst hübsche Möbel hier oben hatte«, begann Lilah. »Sie kam allein hier herauf, um nachzudenken.«
»Wer?«
»Bianca, meine Urgroßmutter. Kommen Sie, schauen Sie sich die Aussicht an.« In dem Verlangen, sie mit ihm zu teilen, zog sie ihn zum Fenster. Von hier aus erblickte man nur Wasser und Felsen. Es hätte einsam wirken sollen, fand Max, doch stattdessen wirkte es gleichermaßen begeisternd und traurig. Als er seine Hand an die Glasscheibe legte, sah Lilah ihn überrascht an. Sie hatte das gleiche unzählige Male getan, als wünschte sie sich etwas, das sich nur ein Stück außerhalb ihrer Reichweite befand.
»Es ist … traurig.« Er hatte ›schön‹ oder ›atemberaubend‹ sagen wollen und runzelte die Stirn.
»Ja, aber manchmal ist es auch tröstlich. Hier fühle ich mich Bianca immer nahe.«
Bianca … Der Name klang wie ein beharrliches Summen in seinem Kopf.
»Hat Tante Coco Ihnen schon die Geschichte erzählt?«
»Nein. Gibt es eine Geschichte?«
»Natürlich.« Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Ich dachte, sie hätte Ihnen die Calhoun-Fassung als Alternative zu den Presseberichten geschildert.«
Ein feines Pochen setzte in seiner Schläfe ein, wo die Wunde langsam heilte. »Ich kenne bis jetzt noch keine der beiden Versionen.«
»Bianca stürzte sich in einer der letzten Sommernächte 1913 aus diesem Fenster, aber ihr Geist blieb hier.«
»Warum hat sie sich umgebracht?«
»Nun, das ist eine lange Geschichte.«
Lilah machte es sich auf der Fensterbank bequem. Sie lehnte sich gegen den Fensterrahmen, zog die Knie an und begann zu erzählen.
Max hörte die Geschichte einer unglücklichen Frau, die in den bedeutungsschweren Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in einer lieblosen Ehe gefangen war. Bianca hatte Fergus Calhoun, einen wohlhabenden Finanzier, geheiratet und ihm drei Kinder geboren. Während eines Sommeraufenthalts auf Mount Desert Island hatte sie einen jungen Künstler kennengelernt. Aus einem alten Notizbuch, das die Calhouns gefunden hatten, wussten sie, dass
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