DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
angenehm.“ Doch zehn Tage sind für den hyperaktiven Lenin genug.
Inessa hingegen mietet währenddessen – mit Alexanders Hilfe – ein Haus an der Hauptstraße von Longjumeau. Damit Lenins Lehren größere Verbreitung finden, müssen sie vor allem gelehrt werden. Und so entsteht hier die erste sozialistisch-marxistische Schule. Das Haus – in dem heute ein Restaurant seine türkischen Spezialitäten als „Kebab Lenin“ anpreist – bietet drei Studenten Raum zum Leben. Außerdem mietet Inessa gleich die nebenan gelegene Schmiedewerkstatt sowie ein kleines Häuschen auf dem Nachbargrundstück dazu, in dem die Kurse stattfinden sollen. Sie besorgt die Möbel und überwacht die Aufstellung des Lehrplans. Die Schule wird am 11. Juni eröffnet, Nadja zufolge in einer „unerträglichen Hitze“. Achtzehn Schüler sind eingeschrieben. Es finden sich darunter einige der künftigen führenden Köpfe des Kommunismus. Was die Lehrer nicht daran hindert, barfuß im Klassenzimmer zu erscheinen.
Lenin und Nadja leben auf der anderen Seite des Dorfes, sind aber jeden Tag bei Inessa zum Essen zu Gast. In den Pausen strecken die Schüler sich auf der Wiese aus und stimmen ein Lied an. Lenin begleitet sie mit seinem Bariton. Die gemeinsame Arbeit stärkt die Bande zwischen Lenin und Inessa noch. In Paris mochte der ein oder andere vielleicht schon einen Verdacht gehegt haben, in Longjumeau allerdings soll die Affäre zwischen den beiden konkrete Formen angenommen haben. 1914 schildert Inessa ihre Version der Ereignisse in einem Brief an Lenin:
„Erst in Longjumeau, wo ich für dich übersetzte, ging es mir nahe, mit dir zusammen zu sein […] Ich liebte es, dir zuzuhören oder dich anzusehen, wenn du sprachst. Dein Gesicht war so voller Leben, du warst so versunken in das, was du sagtest, dass du gar nicht gemerkt hast, wenn ich dich angesehen habe […] Damals war ich noch nicht verliebt in dich, aber ich habe dich schon sehr geliebt.“ [16]
Die Romanze bleibt keinem verborgen: „Lenin mit seinen Mongolenaugen sieht nur noch diese kleine Französin“, berichtet der französische Sozialist Charles Rappoport, der die Kurse in Longjumeau besucht. Nadjas Mutter ist reichlich aufgebracht über diese völlig unschickliche Situation. Sie versucht, ihre Tochter zur Abreise zu überreden. Und so schlägt Nadja Lenin vor, den Sommer 1911 über das Feld zu räumen, damit er freie Bahn für seine Liebesgeschichte mit Inessa hat. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihm dieses Angebot macht. Er aber bittet sie zu bleiben. Auch sie ist ihm unentbehrlich. Nadja hat seine Vision geteilt. Sie versteht ihn ohne Worte und gibt ihm auf ihrer gemeinsamen endlosen Odyssee ein Heim, einen Ort der Beständigkeit. Inessa schmeichelt seinem Intellekt und seiner Leidenschaft. Sie führt ihn auf eine einfache menschliche Ebene zurück, die der Gefühle. Beide lieben sie Beethoven, beide haben in den Figuren aus Tschernyschewskis Roman Was tun? Leitbilder ihres neuen Menschseins gefunden. Und sie leben ihre Rolle als Held und Heldin aus [17] .
Nach dem Sommer in Longjumeau kehrt man zurück nach Paris. Inessa mietet eine Wohnung in der Rue Marie Rose 2, genau gegenüber der Wohnung, in der Lenin mit Nadja lebt. Da das Ehepaar ohne eigenen Nachwuchs ist, adoptiert es quasi Inessas Kinder. „Du bist ein Bolschewik“, erklärt Lenin Inessas Sohn André, dessen Vater Vlady so früh verstorben ist.
Allmählich entwickelt sich das Nebeneinander der beiden Familien zur regelrechten Symbiose. Lenin hat Nadja überzeugen können, dass er sie nie verlassen wird. Und so nimmt sie Inessa in ihre bisherige Zweierbeziehung auf. Sechs Jahre lang werden sie nun ein Leben zu dritt führen.
Die Menage à trois
Aber eine Frau – und auch nicht zwei – an seiner Seite genügt Wladimir Iljitsch nicht. Die Erfahrung in Longjumeau hat seinen Ehrgeiz weiter angestachelt. Er muss eine Möglichkeit finden, seine Ideen in Russland bekannt zu machen. Und so begeben Lenin und Nadja sich im darauffolgenden Sommer ins polnische Krakau, das zu der Zeit von den Österreichern regiert wurde. Die österreichische Polizei arbeitet nicht mit der Ochrana zusammen, und so kann Lenin dort in Ruhe an seinen Pamphleten schreiben. Nadja, die mittlerweile eine gewisse Geschicklichkeit darin erlangt hat, Spuren zu verwischen, knüpft Kontakte zu den Bäuerinnen auf dem Krakauer Markt. Diese sorgen dafür, dass Lenins Briefe nach Russland gelangen. Er plant eine Zeitung mit Namen
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