DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
nicht nur Lenin, der Inessa fehlt:
„In Paris gab es viel Gutes in meiner Beziehung zu N. K. (Nadja Krupskaja)“, fährt sie fort. „Während unserer letzten Gespräche hat sie mir gesagt, dass ich ihr lieb und teuer geworden sei, und auch ich habe sie von unserer ersten Begegnung an geliebt. Sie war so charmant und liebenswert. Wenn ich in Paris war, bin ich immer in ihr Büro gegangen, um sie zu sehen. Ich habe mich auf ihren Schreibtisch gesetzt und mit ihr über die Partei geredet, überhaupt über alles Mögliche.“
Trauer überschattet ihr Gemüt. Nach dem Selbstmord einer Freundin sieht Inessa das Schlimmste auf sich zukommen: „Tamaras Tod war so schrecklich, ich komme darüber nicht hinweg. Und andererseits liegt doch etwas Verlockendes darin.“ Sie muss weg aus dieser Stadt, in der sie jede Ecke an Lenin erinnert und so ihre Stimmung verdüstert:
„Ich suche die Orte auf, die uns so vertraut waren. Erst hier wird mir bewusst, wie viel Raum Du hier, in Paris, in meinem Leben eingenommen hast. Alles, was wir hier getan haben, war von tausend Gedanken an Dich erfüllt. Ich war ja nicht immer in Dich verliebt, doch ja, ich liebte Dich. Jetzt würde ich sogar auf Deine Küsse verzichten, wenn ich Dich nur sehen könnte. Gelegentlich mit Dir sprechen zu können, was für eine Freude das wäre! Und das würde doch sicher niemandem schaden? Warum nur muss ich darauf verzichten?“
Im Juni 1914 fordert Lenin Inessa auf, ihm „unsere Briefe“ zurückzuschicken, damit er sie vernichten könne. Er will jedes Zeichen ihrer Gefühle füreinander auslöschen. „Wir sind getrennt … und das tut so ungeheuer weh“, schreibt er in einem Brief aus Paris, den er niemals abschickt. Der Krieg beginnt, und Lenin wird als Spion verhaftet. Inessa mobilisiert Gelder in der Schweiz und sorgt dafür, dass er gegen Kaution auf freien Fuß kommt. Nadja sucht sie in der Schweiz auf. Gemeinsam mieten sie eine Wohnung im Diestelweg 11 in Bern. Und das Trio fängt dort wieder an, wo es aufgehört hat. Nadja schreibt in ihr Tagebuch: „Wir gingen stundenlang am Waldrand spazieren. Wir, das Trio aus W. Iljitsch, Inessa und mir. Hin und wieder setzten wir uns auf einen moosbedeckten Baumstumpf. Iljitsch las seine Texte durch, ich lernte Italienisch. Inessa trug einen Rock und genoss die Wärme der Sonne.“
Inessa nutzt den Aufenthalt auf dem Land, um ein Pamphlet über die freie Liebe zu schreiben. Sie tritt leidenschaftlich für die Rechte der Frauen ein. Ihr Engagement hat seine Wurzeln in einem Ereignis aus ihrer Jugendzeit, als sie noch mit Alexander verheiratet war. Sie war mit ihrer beider drittem Kind schwanger, als man ihr in Puschkino den Zutritt zur Kirche verweigerte, weil ihre Schwangerschaft sie unrein mache. Man verweigerte ihr sogar den Segen. Obwohl Inessa stets sehr gläubig gewesen war, fühlte sie sich einmal mehr zurückgewiesen, ja verachtet für das, was sie war.
Sie schickt Lenin ihre Streitschrift in der Hoffnung, in ihm einen scharfsinnigen Leser zu finden. Doch sein Wohlwollen kennt Grenzen: Er zerfetzt ihre Argumentation in der Luft. Entmutigt gibt sie alle weiteren Versuche, ihre Gedanken weiterzuentwickeln, auf. Lenin praktiziert die freie Liebe zwar, aber was die Theorie angeht, gehört er nicht unbedingt zu den bekennenden Anhängern. „Eheliche Küsse ohne Liebe“, versetzt er, „sind unrein. Was wäre dann das Gegenteil? Eine flüchtige Leidenschaft? Die dann per definitionem ebenfalls ohne Liebe wäre. Daraus folgt logisch, dass flüchtige Küsse ohne Liebe anders einzustufen wären als eheliche Küsse ohne Liebe. Das ist doch logisch nicht haltbar, nicht wahr?“ [19]
Eine seltsame Schlussfolgerung aus dem Mund eines Mannes, der mit seiner Ehefrau und seiner Geliebten zusammenlebt. Und er tut sein Möglichstes, um Inessa von diesem Thema abzubringen:
„17. Januar 1915
Liebe Freundin,
ich rate Ihnen, eine möglichst exakte Gliederung Ihrer Streitschrift anzufertigen, da sonst zu viele Dinge unklar bleiben. Und ich möchte Ihnen noch einen weiteren Rat erteilen. Meiner Meinung nach sollten Sie den ganzen dritten Absatz, ‚Die Forderung der Frauen nach freier Liebe‘, streichen. Denn dies ist nicht eigentlich eine proletarische, sondern eher eine bürgerliche Forderung. Außerdem: Was verstehen Sie unter dieser Floskel? Was kann man darunter verstehen?
1. Freiheit der Liebe von materiellem und finanziellem Kalkül?
2. Von religiösen Vorurteilen?
3. Von den Vorschriften
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