DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Verehrer ein, allen voran ihr Mathematiklehrer. Der kräftige Mann, der stets einen schwarzen Mantel trägt, ist der Schrecken der Schülerinnen. Man nennt ihn den „Riesen“. Eines Tages, als Felismina von der Schule nach Hause geht, hört sie Schritte hinter sich. Der Lehrer geht ihr nach. Von nun an verfolgt er sie täglich, um sich unter ihrem Fenster aufzupflanzen und zu warten, bis sie sich zeigt. Als er ihr eines Abends begegnet, zieht er galant den Hut. Sie antwortet auf seinen Gruß. Aber das genügt ihm nicht. Die Verlockung ist zu groß. Der zum Voyeur degenerierte Mathematiklehrer verbirgt sich hinter einem Baum und wartet, bis die Nacht hereinbricht. Dann klopft er an ihre Tür. Felismina flüchtet auf ihr Zimmer. „Ich habe geweint, weil ich mich so schuldig fühlte. Ich habe ihm eine Sünde eingegeben, er ist doch verheiratet.“
Im Jahr 1900 empfängt sie zum ersten Mal die Heilige Kommunion und steigert sich in religiöse Ekstasen. Die Schwestern des Kollegs finden sie häufig ausgestreckt auf dem Boden liegend. „Mein Herz war so voller Süße, dass es in dieser Woge der Gefühle unterzugehen schien. Dann musste ich weinen, ohne auch nur zu wissen, weshalb.“ Die Nonnen sehen darin ein Zeichen ihrer Berufung. Man lädt sie ein, doch dem Orden beizutreten. Doch Felismina will nicht: Ihre Beziehung zu Gott ist eine höchst intime und soll von keinem weltlichen Orden diktiert werden. Sie will dieses Gefühl mit niemandem teilen. In ihren Gebeten ruft sie Jesus Christus an: „Oh, mein Jesus. Ich will Dich so sehr lieben, immer und immer mehr […] bitte führe mich zu Dir.“ Ihr Leben ist ausgefüllt von Rosenkränzen, Gottesdienst und Zwiesprache mit dem Übernatürlichen.
Doch die politische Lage ihres Landes reißt sie bald aus ihrer mystischen Ekstase. Felismina wird zur glühenden Patriotin. 1901 erlebt die konstitutionelle Monarchie Portugals eine Zeit der Krise. Nach einem halben Jahrhundert der Stabilität, in dem sich an der Spitze eines relativ modernen Systems die progressiven Parteien der Linken und die konservativen des rechten Flügels in der Regierung abwechseln, versuchen die liberalen Republikaner zusammen mit den Sozialisten, König Karl I. zu vertreiben. Die Anführer dieser Bewegung, die sich „Generation 70“ nennt, gehören einer Studentengruppe der Universität von Coimbra an, die durch die republikanischen Ideen Frankreichs inspiriert ist. Die Institutionen des Landes sind blockiert. Die wildesten Gerüchte schwirren durch das Land, das am Rand eines Bürgerkriegs steht. Man fürchtet, die religiösen Orden könnten verboten werden, falls die Hardliner der Gruppe die Macht übernähmen. Die Kirche zittert.
In diesem Klima findet Felismina ihre alte Kampfbereitschaft wieder: „Wer meine geliebte Lehrerin angreift, wird zuerst mich töten müssen. Wie ich die Straßenjungs mit dem Besenstiel verprügelt habe, so werde ich die Verschwörer mit einer Pistole in der Hand erwarten, die ich mir irgendwo ausleihen werde.“
Doch es kommt nicht zur republikanischen Machtübernahme. Der Sturm legt sich. Im darauffolgenden Jahr schickt ihr Vater Felismina ans Lehrerkolleg von Viseu. Als sie dort eintrifft, hat sie bereits das Äußere einer sittenstrengen Lehrerin der Jahrhundertwende angenommen: Sie trägt nur noch Schwarz und steckt ihr Haar zu einem strengen Knoten auf. Sie ist eine vorbildliche Schülerin und gibt sich Mühe, sich bestmöglich auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten. Zugleich erteilt sie ihren bedürftigen Mitschülerinnen bereitwillig Nachhilfeunterricht. So lernt sie Marta Salazar kennen, ein junges Mädchen aus verarmter Familie, das aus dem Dorf Santa Comba Dão stammt.
Die Schändlichkeiten eines Seminaristen
Trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre weicht der Schatten der Traurigkeit nie von Martas Antlitz. Ihre Familie ist im Norden, in Santa Comba Dão in der Nähe von Bragança, geblieben, wo sie auf einem Bauernhof lebt. Die Ernsthaftigkeit der jungen Frau, ihre offensichtlich bescheidenen Verhältnisse und ihr ungeheurer Wissensdurst berühren Felismina: „Sie trug matronenhaft aussehende Schleppenkleider […], doch man respektierte sie wie eine Dame von Welt. Sie machte mir am meisten Arbeit, aber sie bat mich immer mit so viel Bescheidenheit: ‚Bitte, bring mir das bei.‘“
Außerdem teilen die beiden Frauen das Gefühl der Fremdheit. Die eine vermisst ihre Familie, die andere fühlt sich in dieser Stadt ohnehin nie wirklich zu Hause.
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