DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Gemeinsam entfliehen sie nun ihrer Einsamkeit und sind bald unzertrennlich. Vom kommenden Jahr an – 1905 – lebt Marta als Untermieterin bei Felismina. Um das Ereignis gebührend zu feiern und ihre Freundschaft zu besiegeln, legt Marta Felismina ein Kettchen mit einem Kreuz um, das ihre Mutter ihr geschickt hat. Erst sehr viel später erfährt Felismina, dass die Kette aus Gold ist und Marta ihr ganzes Erspartes für dieses schlichte, aber inspirierende Geschenk ausgegeben hat.
Am 5. Oktober begleitet António seine Schwester. Auch für ihn ist dies ein wichtiger Tag: Er hat beschlossen, nach einem Sommer voller Zweifel ans Priesterseminar in Viseu zurückzukehren, wo er seit 1901 studiert. Als António de Oliveira Salazar am 28. April 1889 zur Welt kommt, ist Marta bereits acht Jahre alt, seine Mutter über vierzig. Damit steht Martas Rolle im Familienverband fest: Sie wird, zusammen mit ihren drei Schwestern, für den kleinen António Mama spielen. Auf diesen lang ersehnten Jungen, der der Familie endlich geschenkt wird, konzentriert sich die gesamte weibliche Aufmerksamkeit. Auf dem bescheidenen Anwesen der Familie Salazar spielt die Kinderschar im Hof mit Puppen. Die Kinder kochen und servieren ihnen Mahlzeiten und benutzen dafür die vom kleinen António mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit aus Holz geschnitzten Utensilien. Der wenig robuste Junge hat nur seine Schwestern zum Spielen. Maria do Resgate arbeitet in ihrem kleinen Gasthaus und kocht für ihre Gäste, während der Vater, António de Oliveira, auf den Feldern des adligen Pachtherrn Perestrelo schwitzt. António ist seiner Mutter, die 1905 sechzig wird, ein hingebungsvoller Sohn. Die Jahre harter Arbeit haben sie alle Kraft gekostet, und so fleht sie ihren Sohn, der es einmal besser haben soll, in jenem Sommer an, doch an seine Zukunft zu denken und sich ernsthaft dem Studium zu widmen. Das Priesterseminar ist für Jungen aus armer Familie der einzige Zugang zu einem späteren Studium. António, dessen wenig ausgeprägte Religiosität ihn bislang unentschlossen zögern ließ, hört auf seine Mutter und kehrt in jenem Oktober nach Viseu zurück.
An jenem Tag „begann die Geschichte einer großen Liebe, von der man sagen könnte, dass Gott selbst sie gewollt hat“, vertraut Felismina ihrem Tagebuch an. Von nun an begleitet sie ihre Freundin jeden Samstagnachmittag ins Priesterseminar, um deren Bruder zu besuchen. Er ist ein guter Unterhalter, und so erzählt er den Mädchen grimassierend von den Streichen, die die jungen Männer im Seminar anstellen, das sie mehr zu losem Treiben inspiriert denn zu einem heiligmäßigen Lebenswandel. Felismina lauscht wie trunken seinen Worten. Sie bringt ihm jede Woche Marmelade und geröstete Maroni mit. Er empfängt sie in der Soutane an der Pforte des Seminars. Bei einem der wöchentlichen „Kirchgänge“ dieser noch jugendlichen Liebe steckt Antonio dem Mädchen ein Briefchen zu. Die neugierige Marta versucht ihrer Freundin beim Lesen über die Schulter zu schielen, was António seiner Schwester jedoch verwehrt. Diese Worte sind nur für Felismina gedacht. Er schreibt, er sei bereit, seinen Lebensplan zu ändern und eine Familie zu gründen. Doch in ihren Augen ist dieses Vorhaben Sünde: Studiert er nicht Theologie, um Priester zu werden? Felismina verbirgt ihr errötendes Gesicht hinter ihrem Ärmel und läuft weg. Einige Tage später erhält sie einen zweiten Brief: „Beherrschen Sie sich doch … warum sind Sie, als Sie meine Worte lasen, errötet? Warum haben Sie nicht gelächelt?“ Auch dieser Brief bleibt ohne Antwort. Seine höchst irdische Leidenschaft scheint ihn allmählich vom Pfad der Kirche fortzuführen. Hat Salazar auch keine Bedenken, seine religiöse Berufung um einer Frau willen hintanzustellen, Felismina könnte dies niemals akzeptieren. Christus einen seiner Jünger zu rauben würde für sie die tiefste Verdammnis bedeuten. Ist es Schüchternheit oder Kalkül? „Wahr ist, dass ich in diesem Moment eine Mischung aus Anziehung und Abneigung verspürte, von Freude und Schmerz zugleich, die mir für den Rest meines Lebens erhalten bleiben sollte.“
Doch Salazar ist nicht der Mann, der sich von etwas abbringen lässt. Von einem anderen Seminaristen lässt er dem Rotschopf ein Päckchen überbringen. Darin findet sie vollgeschriebene Hefte. Felismina erkennt Salazars Schrift. Er vertraut ihr seine innigsten Wünsche an und setzt auf sein sprachliches Geschick, um ihr die Freuden eines
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