DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Freiheit und so viel Lust, die Freuden des Lebens zu genießen! Sie begreifen nicht, dass man das vollkommene Glück nicht durch Genuss, sondern durch Verzicht erlangt.
António Salazar
Die Jungfrau von Viseu
Der Rotschopf vom Bahnhof
5. Oktober 1905, Bahnhof von Viseu. Die Lokomotive hält am Bahnsteig. Die ersten Reisenden steigen aus dem Zug. Es regnet. António Salazar und seine Schwester Marta werden von ihrer Mutter, Maria do Resgate, begleitet. Ebenso sittenstreng wie arthritisch humpelt sie mühevoll über den Bahnsteig, wo sie von Felismina erwartet werden, einer jungen Lehrerin und Freundin Martas. António, der ins Priesterseminar zurückkehrt, nähert sich ihr still, wie um sie nicht zu erschrecken. Gebannt starrt er sie an. Groß und strahlend schön schüttelt sie ihr rotes Haar. Zwei helle Augen blicken ihn aus einem sommersprossigen Gesicht an. Salazar ist sechzehn Jahre alt, sie zwei Jahre älter. Sie sehen sich an und die Zeit scheint still zu stehen. Sie können gar nicht genug voneinander bekommen, obwohl sie sich noch nicht einmal kennen. An jenem Abend wird das Mädchen mit klopfendem Herzen in sein Tagebuch schreiben: „Diese erste Begegnung am Bahnhof ist der Beginn des romantischen Parts in meinem, vielleicht sogar in unser beider Leben.“ [1]
Felismina de Oliveira stammt aus einer vielköpfigen Familie bescheidener Herkunft – wie António. 1887 geboren, ist sie das fünfte von acht Kindern. Ihre Mutter ist Dienstmädchen, schweigsam und fromm. Ihr Vater ist als Hausmeister bei der Stadtverwaltung angestellt und legt viel Wert auf die Bildung seiner Kinder. Abends hört er ihre Lektionen ab und spricht für sie das Gebet, wenn sie sich schlafen legen. Vor allem Felismina kann ohne das allabendliche Vaterunser nicht einschlafen. Schon im Kindesalter liebt sie die Poesie und schreibt selbst Gedichte. Man schickt sie auf eine Privatschule, um das talentierte Kind zu fördern. Doch obwohl Felismina die Klassenbeste ist, hasst ihre stämmige und kurzsichtige Lehrerin das hoch aufgeschossene, freundliche Mädchen. Täglich wird sie gedemütigt. Die Lehrerin versohlt ihr mit dem Lineal den Hintern. In ihren Augen steckt in dem Mädchen mit den feuerroten Haaren der Teufel. Ohnehin sind rothaarige Frauen Geschöpfe des Dämons, vor denen man sich hüten sollte. Felismina mag ihre rebellischen Locken eigentlich nicht und bändigt sie stets mit Haarklammern. Eines Tages aber setzt sie sich vor den Spiegel und löst das Haar. Die Sonne scheint herein, ihr Kopf scheint zu glühen wie ein Kohlebecken. „Welch seltsame Schönheit …“, findet Felismina plötzlich. „Wenn Sie das nur sehen könnten.“
Manchmal veranlasste ihre Haarfarbe sie auch zu recht metaphysischen Spekulationen: „Ich weiß heute, dass es das pulsierende Blut in meinen Adern war, das meine Haare leuchten ließ. Niemand in meiner Familie hatte solch eine Haarfarbe. Daher frage ich mich selbst, woher ich eigentlich stamme.“ Von nun an wird sie ihren leuchtenden Haarschopf tragen wie eine Standarte.
Und so geht Felismina schon nach der Unterstufe von der Schule ab und setzt ihre Ausbildung auf der Straße fort, wo sie von den anderen Kindern verhöhnt wird. Sie lernt zu kämpfen und prügelt sich am liebsten mit Jungs. Nur sie erkennt ihr feuriges Temperament – Aszendent Kriegerin – als gleichwertige Gegner an. Ihr Kampfgeist sagt ihr, dass sie zu Großem berufen ist. Offen ist nur, wozu.
Felismina täuscht sich nicht, wenn sie sich innerhalb ihrer Familie als Fremdkörper erlebt. Herminia, ihre ältere Schwester, will ins Kloster gehen und tritt in den Konvent vom Herzen Mariä ein. Als Felismina dreizehn Jahre alt ist, erblindet ihr Vater. Herminia muss das Kloster verlassen und arbeiten, um die Familie zu versorgen. Sie geht bei einer Schneiderin in die Lehre und eröffnet einen Hutsalon in Porto. Von diesem Moment an nimmt die Beziehung zwischen den beiden Schwestern einen zwiespältigen Charakter an: Überträgt Herminia etwa ihre religiösen Bestrebungen auf Felismina? Auf ihren Rat hin geht Felismina als externe Schülerin ins Kolleg der Schwestern vom Herzen Mariä. Dort erhält sie eine gute und kostenlose Schulbildung. Die besten Familien Viseus schicken ihre Töchter zu den Schwestern. Und Felismina wird zur Zielscheibe des Spotts der reichen Mädchen. Sie geht immer noch barfuß und weigert sich, sich das Haar zu kämmen.
Als sie in der vierten Klasse der Oberstufe ist, stellen sich die ersten
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