Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
«Billy hatte recht. Jemand ist mir gefolgt.»
Sebastian begriff selbst, dass das nun wohl ziemlich klar war, aber er musste es aussprechen, in Worte fassen. Er brauchte eine Bestätigung. Er war verfolgt worden. Überallhin. Und er hatte keiner Ahnung gehabt. Das war ein nahezu unwirkliches Gefühl. Unwirklich und vor allem unbehaglich. Er war observiert worden.
«Ja.» Vanja blickte ihn über das Autodach hinweg an, und diesmal sah sie ausnahmsweise nicht irritiert aus. Selbst ohne großes Wohlwollen konnte man in ihrem Gesicht ein gewisses Mitleid lesen. In diesem Moment beschloss Sebastian, sie nie wieder zu verfolgen, ganz gleich, was auch geschehen mochte. Er würde nie wieder vor ihrem Haus stehen. Nie wieder in den angrenzenden Waggon der U-Bahn steigen. Er war gezwungen, das Projekt zu beenden. Er musste Trolle anrufen und die Sache abblasen. Jetzt war es genug.
E ine knappe Stunde später parkten sie erneut. Es würde ein weiterer strahlender Sommertag werden, und die Hitze schlug ihnen entgegen, als sie die Autotür öffneten. Auf der Fahrt hatten sie kaum miteinander geredet, was Sebastian sehr angenehm war. Er wollte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen.
Als sie ausstiegen, klingelte Vanjas Telefon. Sie meldete sich, während sie gleichzeitig den Wagen abschloss, und ging ein Stück zur Seite. Sebastian blieb stehen und betrachtete das unpersönliche Betongebäude hinter der hohen Mauer. Ein weiterer Gruß aus seiner Vergangenheit. Wieder ein Ort, der sich im Prinzip nicht verändert hatte. Das alles verlief keineswegs nach Plan. Er hatte doch sein neues Leben beginnen wollen. Einen Neuanfang wagen.
Man musste ein eigenes Leben haben, bevor man Teil eines anderen werden konnte.
Doch nun holte ihn die Vergangenheit ein. Hinde. Die toten Frauen. Alles an diesem Fall warf ihn zurück. Es waren viele Jahre vergangen, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Im Sommer 1999 hatte er seine Interviews mit Edward Hinde in dem Glauben beendet, Lövhaga zum letzten Mal betreten zu haben. Jetzt stand er wieder hier.
Hinter vergitterten Fenstern, Stacheldraht auf hohen Mauern und Sicherheitstüren saß der gefährlichste und wahnsinnigste Verbrecher Schwedens. Sebastian ertappte sich dabei, dass er angesichts der bevorstehenden Begegnung leicht nervös war. Edward Hinde war extrem intelligent. Manipulativ. Berechnend. Obendrein besaß er die Gabe, fast alles und jeden zu durchschauen. Man musste in Topform sein, um ihm gegenüberzutreten, sonst gewann er schnell die Oberhand. Nach allem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, war Sebastian sich nicht sicher, ob er stabil genug war.
Vanja hatte ihr Telefonat beendet und kam wieder auf ihn zu. «Der Ford Focus wird gesucht. Er wurde in Södertälje als gestohlen gemeldet.»
Sebastian nickte nur.
«Man hat ihn schon im Februar geklaut.»
Sebastian sah Vanja fragend an, als wollte er nachprüfen, dass er sich nicht verhört hatte. Sie nickte bestätigend. Das musste zwar nicht bedeuten, dass er seit einem halben Jahr verfolgt wurde, aber die Möglichkeit bestand. Sebastian versuchte kurz zu erfassen, welche Konsequenzen das haben konnte, hatte dann aber keine Lust, den Gedanken zu Ende zu denken. Eine Sache nach der anderen. Er holte tief Luft. Jetzt musste er sich auf die Begegnung mit Hinde vorbereiten.
Sie gingen auf das Tor und den Wärter zu, der sie stumm beobachtet hatte, seit sie aus dem Auto gestiegen waren.
«Wie ist dieser Hinde denn so?», fragte Vanja neugierig, und ihre Stimme war frei von dem vorwurfsvollen Ton, den sie Sebastian gegenüber sonst immer annahm. Offenbar hatte auch sie das Gefühl, sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
Sebastian zuckte mit den Schultern. Er war sich sicher, dass Vanja noch nie einem Menschen wie Hinde begegnet war. Das waren wohl die wenigsten. Man konnte Hinde nicht mit einem gewöhnlichen Täter vergleichen. Er war weder der eifersüchtige Ehemann noch der junge Schulabbrecher aus einer Problemfamilie. Hinde war etwas ganz anderes. Also hatte Vanje keine Vergleichswerte. Und so wenig sie die Fähigkeit besaß, sich in die krankhaften Beziehungen und Handlungen Hindes hineinzuversetzen, die zu den Morden in den Jahren 1995/96 geführt hatten, so schwer würde es ihr fallen, sich den Abgrund in Hindes Innerem vorzustellen. Ihn mit einem der Verbrecher zu vergleichen, die Vanja in ihren bisherigen Berufsjahren kennengelernt hatte, käme dem Vergleich zwischen einem Siebtklässler im Physiksaal und einem
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