Die Frauen von Clare Valley
ungewöhnliche Kindheit gewesen, sie waren in Motels groß geworden und von Stadt zu Stadt gezogen. Und während Jim und Geraldine arbeiteten, hatte sich Lola um die Mädchen gekümmert. Mit Hingabe. Sie hatte auch den Spaß, das Abenteuer und die Musik in ihr Leben gebracht. Lola hatte die Mädchen in Kindertagen sogar zu einer kurzen, wenn auch ziemlich kläglichen Karriere als Gesangstrio verleitet, natürlich unter dem Namen Die ABC-Schwestern . Anna hatte das Unterfangen trotz ihrer jungen Jahre ausgesprochen ernst genommen, Bett es über sich ergehen lassen, Carrie es genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Lola hatte sich dabei köstlich amüsiert. Alles, was ihre drei Enkelinnen taten, amüsierte sie.
Doch wo einst ein Dreierbund gewesen war, waren nur noch zwei. Was wie der Vers aus einem alten Gedicht klang, war so wahr wie herzzerreißend. Es war nun fast fünf Jahre her, dass ihre älteste Enkelin Anna mit vierunddreißig Jahren an Krebs gestorben war. Jahre der Schmerzen, des Kummers, der Tränen. Sie kämpften alle noch mit dem Verlust, jeder auf seine Weise. Selbst jetzt stach sie der Gedanke ins Herz, weniger schmerzhaft zwar, doch noch immer spürbar. Mindestens einmal im Monat ging Lola an Annas Grab, dennoch ertappte sie sich manches Mal dabei, wie sie zum Hörer griff, um Anna anzurufen, sich mit ihr über das Erlebte auszutauschen. Eine Erinnerung zu teilen. Mit ihr zu lachen. Ihre wundervolle Stimme nur noch ein einziges Mal zu hören.
Auch ihre beiden anderen Enkelinnen waren nach Annas Tod nicht grundlos im Clare Valley, in der Nähe des Motels geblieben. Sie hatten diese Nähe gebraucht, um häufig und offen über Anna zu sprechen, um glückliche Zeiten wachzuhalten und zu feiern. Wer in diesen geschlossenen Reihen fehlte, war Annas zwölfjährige Tochter Ellen, die mit ihrem Vater Glenn in Hongkong lebte. Glenn war Marketing-Manager, und nach Annas Tod hatte ihn der berufliche Erfolg über Singapur und Kuala Lumpur nach Hongkong geführt. Sie alle litten darunter, dass Annas einziges Kind so fern von ihnen lebte, doch natürlich musste Ellen bei ihrem Vater bleiben.
Über einen solchen Verlust kam eine Familie nie hinweg. Den Quinlans jedenfalls war es nicht gelungen. Doch die Familie hatte sich gewandelt. Das hatte ihnen ermöglicht, nach vorn zu schauen. Und war es nicht der schönste Wandel, wenn eine Familie sich vermehrte? Wenn Babys die Lücke füllten, die ein Tod gerissen hatte? Lola lächelte schon beim Gedanken an ihre Urenkel. Carrie und ihr Mann Matthew hatten drei Kinder, Delia, viereinhalb, Freya, drei, und den zweijährigen George. Sie hielten die Familientradition der alphabetischen Namen aufrecht – nur das »E« wurde schon von Ellen eingenommen. Lolas mittlere Enkelin Bett und ihr Mann Daniel waren die stolzen, aber völlig erschöpften Eltern der sieben Monate alten Zwillinge Zachary und Yvette. Auch sie hatten sich dem Alphabet verschrieben, wenn auch vom anderen Ende her. Für Lola waren die Zwillinge die wundervollsten Babys auf der ganzen Welt, aber das Geschrei! Du liebe Güte. Die beiden waren lebende Verstärker – gab einer von ihnen einen Ton von sich, trug der andere ihn lauthals weiter.
Eine alte Freundin hatte Bett zu einem Familienweihnachten in ihr Strandhaus eingeladen und ihre eigenen Teenager zum Zwillingssitten zwangsverpflichtet, was für Bett und Daniel bedeutete: ausschlafen. Carrie und Matthew wiederum waren mit ihren Kleinen über Weihnachten noch nie bei Matthews Familie in New South Wales gewesen. Höchste Zeit also. Trotzdem beunruhigte sie alle sehr, dass Lola während der Weihnachtstage im Motel allein wäre, doch Lola hatte ebenso entschieden dagegengehalten, dass sie genau das wollte. »Ich habe unzählige Weihnachtsfeiern im Familienkreis erlebt«, hatte sie gesagt. »Zeit für etwas Neues. Außerdem habe ich schon Motels geführt, da gab es euch noch nicht. Die paar Tage schaffe ich mit links.«
Lola blickte auf ihre goldene Armbanduhr. Große Güte, gleich zehn, sie musste sich dringend für ihre Abholung fertig machen. Gleich ging es in den Secondhandladen, zur Arbeit. Zumindest offiziell. Na ja, ein wenig aufräumen und das eine oder andere verkaufen würde sie schon, doch in Wahrheit wartete dort Größeres. Ein Schritt durch den unscheinbaren, verblichenen Vorhang an der Rückwand des Ladens, und man befand sich im Kontrollraum der NASA – und nicht etwa im Lager eines Wohltätigkeitsladens auf dem Lande. Dort stand nicht einfach
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