Die Frauen von der Beacon Street
Er hatte es bislang tunlichst vermieden, näher über die Tatsache nachzudenken, dass sein Studienkollege in derselben Nacht ums Leben gekommen war – wahrscheinlich sogar praktisch im selben Moment – wie seine Mutter und seine Schwester. Er hasste es, jedes Mal, wenn er einen Fuß auf den Campus setzte, daran denken zu müssen. Die Fassade der Bibliothek war für ihn wie eine riesige Plakatwand, auf der stand: HARLAN , DU HAST IHNEN NICHT GEHOLFEN … Schier unmöglich, eine Clubversammlung, eine Party, eine Abschlussfeier zu besuchen, denn wohin er sich auch wandte, immer würde da die Bibliothek sein, ein stummer Zeuge sinnlosen Schreckens und Todes. Und Harlan machte einfach mit seinem Leben weiter. Er empfand es als Kränkung, dass er immer noch am Leben war.
Wie kam es nur, dass es keinen einzigen Mann gegeben hatte, der Helen und Eulah in ein Rettungsboot und damit in Sicherheit gebracht hatte? Das war die Frage, der sich Harlan einfach nicht entziehen konnte. Die Zeitungen waren voller Augenzeugenberichte über den Heldenmut von Männern gewesen, die Frauen und Kinder an Bord der Rettungsboote gebracht und dann selbst ganz ruhig ihrem Schicksal entgegengeblickt hatten. Nicht jedoch seine Mutter und Schwester. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, ihnen zu helfen. Besaß denn niemand mehr ein Ehrgefühl?
Seine Mutter war im Grunde ein hilfloses Wesen gewesen – geschickt im Umgang mit Menschen, doch in praktischen Dingen war Helen Allston eine Gefangene ihrer eigenen Nettigkeit gewesen. Abgesehen von ihren unkonventionellen spirituellen Überzeugungen hatte Helen einer längst vergangenen Zeit angehört. Wie man sich am Telefon verständigte, hatte sie nie begriffen, und jede moderne Neuerung war bei ihr durchgefallen, weil sie sie für weniger vornehm hielt als all das längst Überholte, das sie für schicklich erachtete, das aber nach Harlans Überzeugung sowieso nur noch in ihrer Einbildung existierte.
Natürlich war Eulah genau das Gegenteil gewesen. Seine Schwester mit ihren fest gefügten Ansichten, ihren kürzeren Röcken und ihrer Tanzerei war ihm immer wie das großmäulige und blaustrümpfige Sinnbild der Zukunft erschienen. Ganz gewiss hätte sie das Zeug dazu gehabt … Nun ja, und hätte auch auf dem Schiff keinerlei Hemmungen gehabt, jemanden zu bitten …
Harlan verschränkte die Arme vor der Brust und zeichnete mit der Stiefelspitze einen Kreis in den nassen Sand.
Während er seinen planlosen Weg in Richtung Benton Derbys Büro fortsetzte, warf er noch einen letzten finsteren Blick über die Schulter zu der gleichgültigen Fassade der Bibliothek. Er hasste sie.
Jemand hätte ihnen helfen sollen.
Irgendjemand.
Als Harlan die Treppe des Lehrstuhls für Sozialethik hochkam und sich Benton Derbys Büro näherte, sah er, dass die Tür bereits offen war und in ihrem Rahmen ein schlaksiger, gelehrt wirkender Zeitgenosse stand, der etwa in Sibyls Alter sein mochte.
Harlan blieb stehen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Sein nasser Haarschopf fiel ihm tief ins Gesicht. Er räusperte sich.
» Oh! « , rief der andere Professor. » Ein Besucher, Professor Derby. Jetzt habe ich Sie schon wieder viel zu lange mit Beschlag belegt. «
Harlan spähte durch die Tür und sah, wie Benton sich hinter seinem Schreibtisch erhob, die Brille abnahm und sich einen ihrer Bügel in den Mundwinkel schob. Sein Gesicht wirkte verkniffen, das Antlitz eines Mannes, der etwas im Schilde führt. Harlan wusste sehr wohl, dass diese mürrische Miene ihm galt.
» Ach « , sagte Benton. » Professor Edwin Friend, darf ich Ihnen Harlan Allston vorstellen? «
» Wie geht es ihnen? « , murmelte Harlan und streckte dem anderen die Hand hin.
» Harlan Allston « , wiederholte Professor Friend. » Harlan Allston … In welchem Studienjahr sind Sie denn, Mister Allston? «
Harlans Augen blickten rasch nach links und rechts und ruhten schließlich auf Benton Derbys Gesicht, bevor er antwortete: » Ich war im letzten Studienjahr, Sir. Jahrgang fünfzehn. «
» Sie w aren « , wiederholte Professor Friend und sah ebenfalls zu Benton. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, und er sagte: » Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Nun, war mir jedenfalls ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, mein Junge. Alles Gute für Sie und viel Glück. «
» Danke « , erwiderte Harlan, weil ihm nichts Besseres einfiel.
» Und wann genau reisen Sie ab, Edwin? « , fragte Benton, der nach wie vor hinter seinem Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher