Die Frauen von der Beacon Street
Sohlen davon.
Er seufzte. Seine Lippen fühlten sich seltsam an. Die Taubheit in seinem Mund breitete sich über das gesamte Gesicht aus. Er hob die Hand an seine Wange, was ihm einige Mühe bereitete, und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie mit Blut verkrustet war. Sein Kinn fühlte sich gut an. Er mahlte mit den Kiefermuskeln, rieb die verbliebenen Backenzähne aneinander, doch Schmerz empfand er keinen mehr. An seine Stelle war ein herrliches Gefühl der Ganzheit getreten, als würde in seinem Körper ein ruhiger, glatter Ozean wogen, beschienen vom rosigen Schein der Abendsonne. Lannie blickte mit glasigen Augen ins Nichts und ließ es genüsslich zu, wie der Sonnenuntergang ihm in die Glieder kroch.
» Tee. « Die eine Silbe schwebte von der oberen Koje herab und hing vor Lannie in der Luft, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.
Tee. Sein Mund fühlte sich klebrig an, als wäre er schon lange nicht mehr in Gebrauch. Er tastete suchend nach dem vergessenen Teeglas.
Die Flüssigkeit war nur noch lauwarm, doch sie wusch das muffige Gefühl aus seinem Mund. Er legte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. Noch immer war das Innere seines Schädels vom Wogen des Ozeans und der glühenden Sonne erfüllt. Er sah sich im Raum um, doch weder die ausgemergelten Menschen auf den anderen Pritschen noch die Stille beunruhigten ihn.
» Wie geht’s deinem Kiefer? « Die Worte wurden so langsam ausgesprochen, dass sie Lannie eins nach dem anderen erreichten.
» Gut « , sagte Lannie.
» Gut « , äffte ihn der Student mit einem schläfrigen Lachen nach. » Trink vielleicht noch ein bisschen Tee. «
Lannie hielt sich das Glas vors Gesicht und schwenkte es nachdenklich. Dabei wanderten seine Augen von der Oberfläche der Flüssigkeit hinab zu ihrem Grund, zu den wirbelnden Teeblättern.
Lannies Augen folgten den Blättern. Sie schwammen aufeinander zu und trieben wieder auseinander, eine wilde Spirale aus Blättern, die mal vom Licht der Lampe erfasst wurde und es dann wieder in ihren dunklen Wirbeln zu verschlucken schien.
Ein leises Seufzen der Überraschung entrang sich Lannies Mund.
Die Blätter. Sie bildeten ein Muster.
SECHZEHN
Harvard Square, Cambridge, Massachusetts
29. April 1915
A ls Harlan den Campus halb überquert hatte und auf die neue Bibliothek zuging, wurde ihm bewusst, dass er vielleicht besser ein wenig nachgedacht hätte, bevor er wieder einen Fuß auf den Campus setzte. Schon jetzt war er zwei oder drei Kommilitonen begegnet, die er kannte, und obwohl sie ihn gut gelaunt und mit der fröhlichen Sorglosigkeit gegrüßt hatten, die bei den pomadisierten Jungs in seiner Jahrgangsstufe üblich war, merkte er deutlich am nervösen Flattern ihrer Augenlider, dass sie etwas gehört hatten … nun ja, irgendetwas. Wie viel Glauben sie den Gerüchten geschenkt hatten, hing größtenteils davon ab, welche von Harlans Vergehen eigentlich zur Debatte standen. Die Gespräche waren gezwungen und dienten nur vordergründig dem Austausch von Neuigkeiten, als wäre Harlan bloß eben gerade von einer ausgedehnten Reise zurückgekehrt, statt mit abrupter Endgültigkeit aus dieser Welt verbannt worden zu sein.
Harlan zog den Kopf tief in den Kragen und hatte das Gefühl, man würde ihm seinen Mangel an Eile deutlich ansehen. Die Turmuhr von Appleton Chapel schlug die halbe Stunde, und Harlans Schritte wurden noch langsamer, obwohl ihm klar war, dass er nun zum vereinbarten Treffen zu spät kommen würde. Finster blickte er auf seine Füße.
Nun, die Bibliothek sah wirklich gut aus, nicht wahr? Harlan fand in ihr rasch einen Vorwand innezuhalten, ohne dabei auf die klamme Feuchtigkeit zu achten, die ihm allmählich in die Kleidung kroch. Er wandte sich der Reihe neoklassizistischer Säulen zu, die schon bald Harvards ausgedehnte Sammlung von Büchern bewachen würden, welche in einem Monat mit entsprechendem Pomp und Getöse eröffnet werden würde. Man stelle sich vor – ein Mann, der nicht allzu viel älter gewesen wäre als er, hätte er nicht das Zeitliche gesegnet, und diese ganze neue Bibliothek war zu seinen Ehren errichtet worden! Persönlich hatte er Harry Widener nicht gekannt. Armer Teufel. Natürlich gab es für Harlan viele andere Dinge, für die man ihn in Erinnerung behalten sollte, wenn es nach ihm ging. Mit Büchern hatte er nie viel am Hut gehabt.
Und trotzdem …
Harlan stand stocksteif da, ließ das ganze Gewusel des Campus an sich vorbeiziehen und dachte nach.
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